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Zeitschrift für christliche Kunst — 24.1911

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Tafel I
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Witte, Fritz: Ein Wort über den Einfluß der englischen Stickkunst im Mittelalter
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https://doi.org/10.11588/diglit.4275#0014

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1911. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 1.

dekoratives Mittel betrachten und ihr die
eigentliche Seidenstickerei zur Seite stellen.
Als mustergültigen Repräsentanten dieser Klasse
geben wir auf der Lichtdrucktafel I die vor
20 Jahren aus Kassel bezogene prächtige
Kasel der „Sammlung Schnütgen" wieder. Sie
vereinigt in ihrem Schmuck figurale Dar-
stellungen mit ornamentalem Beiwerk, nimmt
die verschiedenartigsten Techniken in Anspruch
und ist trefflich erhalten bis auf den Perlen-
besatz, den eine gewinnsüchtige Zeit abge-
trennt und wahrscheinlich zu Geld gemacht
hat, wie das bei vielen Arbeiten ähnlichen
Genres geschehen ist. Vergl. Taf. I.

Den Grund des Stabes bildet eine matt
silbergrüne Seide. Zwei Zweige wachsen am
unteren Kreuzende aus einem knorrigen Stamm
und verschlingen sich in weiten Zügen so, daß
spitzovale Felder entstehen, in denen jeweils
das Kniestück eines musizierenden Engelchens
auf einem streng stilisierten Wolkenreifen steht.
In die Dreieckzipfel zwischen den einzelnen
Feldern schieben sich aus der Hand gezeichnete
Blätter und Blumen. Die beiden Zweige sind
in Reliefstickerei hergestellt, mit Leinen unter-
legt und in unregelmäßigen Partien mit farbiger
Flockenseide übersponnen, das Geäste und
die Blätter sind ganz außerhalb jeder An-
lehnung an eine natürliche Färbung in locker-
gelegtem Spannstich gestickt. Die zehn er-
haltenen Engclfigürchen — eines fehlt — sind
in Leinenstickerei unterlegt, die Innenseiten
der Flügel farbig gestickt, die Karnationen
ohne Modellierung mit Konturen der Augen
und des Mundes, die Haare sind aus spiral-
förmig gewickelten cyprischen Goldfäden ge-
legt. Die Gewandpartien haben goldene Falten-
konturen, die dazwischenliegenden Flächen
waren mit echten Perlen benäht, wie einige
spärliche Reste, die in der Leinenunterlage
versunken sind, erweisen. Ebenso hatten die
Flügelrücken und die Wolkensäume ursprüng-
lich Perlenschmuck. Die Mitte der Kreuz-
balken nimmt die Darstellung der Krönung
Mariens ein; Christus und Madonna sitzen
auf einem farbig und in Gold gestickten Throne.
— Fast mehr noch wie die reiche Rückseite
nimmt der Vorderstab die Aufmerksamkeit in
Anspruch (s. Abb.). Er steht unter den Para-
menten überhaupt vielleichtohne Gegenstück da.
Zwei elegante schmale Rankenzüge mit Blüten
und Blättchen in Seiden-, Gold- und Perlstickerei
begleiten einen breiteren Mittelstab, der sich

aus mehreren oblongen Rechtecken zusammen-
setzt. Ganz ähnlich, wie bei einem Perser-
Hängeteppich schiebt sich in diese Rechtecke
eine von Architekturen flankierte, mit einem
rechtwinkeligen Dreieckgiebel abgedeckte
Fläche. Ungemein zart und subtil sind die
Zeichnung und Ausführung, mustergültig beide
in der Anpassung an Material und Technik.
Gang flach sind die Architekturen, eckig die
Dreipaßnasen, flächig die Kreuzkrabben. Daß
orientalische Teppiche hier vorbildlich waren,
ist kaum zu bezweifeln. In der Farbe ist ein
schlichter Rhythmus herrschend: Es wechseln
Felder in einem Grau-Blau-Grün mit solchen
in Lachsrot-Braun, und zwar so, daß jedesmal
die grünen Felder mit lachsroten Architekturen
umrahmt sind und umgekehrt. In den
architekturumrahmten, fensterartisen Feldern
entfaltet sich eine ungewöhnlich reiche und
künstlerisch wertvolle Technik, die in größter
Akribie durchgeführt ist, die des Leinen-
durchbruch. Die hier auftretenden Bei-
spiele dieser Technik dürften zugleich zu den
ersten in dieser speziellen Handhabung der
dichten Umspinnung der stehengebliebenen
Fäden gehören, da ja das frühe Mittelalter
zumeist die weitmaschige Arbeit kennt. Das
ist eine ganz meisterliche Handhabung der
Durchbrucharbeit für die hier geforderte Auf-
gabe, in ruhigen Flächen eine genügende Be-
lebung zu erzielen. Rautenmuster wechseln
ab mit Kreisen, mit lockeren und festen
diagonal geteilten Quadraten, die Spannfäden
sind straff angezogen und präzis von einander
getrennt. Besonders glücklich und unnach-
ahmbar ist die Fabenwirkung, das prickelnde
Silbergrün und Lachsrot, festlich gestimmt
durch Belebung mit flachen Metall-Goldfäden,
die nach oben hin in den goldenen Krabben
und der Kreuzblume verlaufen. Der Raum
über der Architektur ist in ganz engem Zopf-
stich ausgefüllt, ohne Gold, durch die körnige,
kleinliche Technik auch in der Farbe ganz
anders wirkend wie das untere reiche Feld.
Auffällig, auf unserer Abbildung auch ersicht-
lich, ist die Erscheinung, daß die architektur-
geschmückten Felder in der Längsachse eine
minder sorgfältige Durchführung insofern er-
fahren haben, als die Anbringung von Gold-
fäden hier unterblieben ist, daß außerdem die
grüne, besonders aber die Lachsfarbe in ihrer
ursprünglichen Tiefe erhalten geblieben ist.
Rote Fadenreste zudem erweisen, daß hier
 
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