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Zeitschrift für christliche Kunst — 24.1911

DOI Artikel:
Humann, Georg: Neuzeitliche Kunstbestrebungen, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4275#0044

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1911. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 2.

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in dem manche neue Kirchen erbaut sind, hat
man bereits den Ausdruck „Baukastenstil"
geprägt. (Leider kann hier, da alles per-
sönlich Verletzende vermieden werden soll,
nicht auf bestimmte Beispiele verwiesen werden.)
In dieser Art kann jeder Anfänger sich be-
tätigen, während eine reichere gotische Kirche
zu bauen, sehr eingehendes Studium und
lange Praxis voraussetzt!

Auch die im vorigen Jahrhundert entstan-
denen romanischen Kirchen befriedigen
nicht in jeder Hinsicht, wenn auch hier in-
folge der bei weitem leichteren Technik
verhältnismässig Besseres geleistet ist. Bei
den meisten Kirchen ist zu viel Gewicht auf
ein reiches, prunkvolles Äußeres gelegt und das
Innere, welches doch bevorzugt werden sollte,
allzusehr vernachlässigt, so daß man sich beim
Eintritt sehr enttäuscht sieht. Namentlich sind
es die Chöre, also die Stätten, wo das Allerhei-
ligste aufbewahrt und das heilige Opfer gefeiert
wird, welche eine allzudürftige Behandlung
erfahren haben. Da sieht man vielfach
schmucklose, nur durch drei kleine Fenster
mangelhaft erleuchtete Apsiden, wie sie in
altchristlichen und frühromanischen Kirchen
vorkommen. Warum nimmt man nicht die
reich gegliederten Chöre zum Vorbild, die
uns noch in vielen romanischen Kirchen des
XII. und der ersten Hälfte des XIII. Jahrh.
als nachahmungswerte Vorbilder entgegen-
treten? Daß die älteren, kleinen und ein-
fachen Apsiden keinen würdigen Raum in
genanntem Sinne bieten, hat man schon im
Mittelalter empfunden. Es sind noch roma-
nische Kirchen in großer Zahl erhalten, deren
Apsiden durch größere und reichere gotische
Chöre ersetzt sind. Es seien hier nur genannt:
Die Abteikirche zu Quedlinburg, die Pauluskirche
zu Halberstadt, die Ludgerikirche zu Münster,
die Marien- nnd Reinoldikirche zu Dortmund,
die Marienkirche zu Lippstadt und die Kirche
zu Schmallenberg in Westfalen, die Liebfrauen-
und die Florinuskirche zu Koblenz, die Stifts-
kirche zu M.Gladbach, die Ursula- und Andreas-
kirche zu Köln, die Kirche zu Ziegenhain bei
Jena, die Jakobikirche zu Bamberg, St. Sebald
zu Nürnberg, die Kirchen zu Hildrizhausen
in Württemberg, Prüfeningin Bayern, Mittelzell
auf der Insel Reichenau, die Franziskanerkirche
zu Salzburg und der Dom zu Basel. Der kleine
Chor der Aachener Pfalzkirche ist im XIV.
Jahrh. durch einen Chor von derartig großen

Verhältnissen ersetzt worden, daß das ältere
Bauwerk fast erdrückt erscheint (beson-
ders in der äußeren Ansicht). In einigen
Kirchen hat man dem vermehrten Licht-
bedürfnisse in der Weise Rechnung getragen,
daß kleinere durch größere gotische Fenster
ersetzt sind. So in der schönen Kirche zu
Bacharach, wo von fünf Chorfenstern die
drei mittleren in gotischen Formen erweitert
worden sind. Die genannten Kirchen machen
durch die Umgestaltung der Chöre im Innern,
trotz der Stilverschiedenheit einen guten,
meist sogar einen hervorragend schönen Ein-
druck. Im Vorder- und Mittelgrunde die
schweren, ernsten Massen eines romanischen
Langschiffes und dahinter die leichten, zier-
lichen, hell erleuchteten Formen eines weit-
räumigen Chores, der um so herrlicher wirkt,
wenn er erhöht, über einer Krypta aufgebaut ist.

Beim Anlehnen neuer Kirchen an den
gotischen Baustil sind aber gewisse, ästhetisch
unberechtigte Formen der Spätgotik zu
meiden, so vor allem gekrümmte Fialen, kapi-
tällose Säulen, das unvermittelte Einschneiden
der Rippen in Säulen und Wände, die weichen,
geschwungenen Linien des nicht tragfähig er-
scheinenden Eselsrückenbogens und die überaus
weichlichen, dem Steincharakter geradezu wider-
sprechenden Fischblasenmuster im Fenster-
maßwerk und in Ballustraden. Auch die
Ornamentik der Spätgotik steht der edlen,
maßvollen Verzierungsweise der früheren Zeit
bei weitem nach. Sie besteht meistens aus
wildem, schwulstigem Elatt- oder dürrem
Astwerk. Dagegen ist das Leichte, Zierliche,
was der Spätgotik im großen und ganzen
eignet, einschließlich der Netzgewölbe (wenn
Jocheinteilungen durch Quergurte nicht gänz-
lich fehlen) wohl der Nachahmung wert, viel-
leicht mit Ausnahme der oft allzuschlanken
nicht stabil genug wirkenden Säulen der Hallen-
kirchen.

In vielen gotischen Kirchen wirken die
Gewölbe insofern ungünstig, als die Stein-
massen nicht genügend gestützt erscheinen,
da dem Beschauer das Stütz- und Strebe-
system im Innern der Kirche nicht vor
Augen tritt. Eine bessere ästhetische Wirkung,
der Eindruck größerer Ruhe und Stabilität,
wie sie uns in vielen romanischen Kirchen
so wohltuend entgegentritt, läßt sich jedoch
dadurch leicht erzielen, daß man einen Teil
der Strebepfeiler in die Schiffe hineinzieht
 
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