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Zeitschrift für christliche Kunst — 24.1911

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Witte, Fritz: Parallelen zwischen der französischen und niederrheinischen gotischen Plastik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4275#0049

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1911. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST _ Nr. 3.

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denken, und das ist aus verschiedenen Gründen
unzulässig. Maßgebend für die Altersbestim-
mung ist hier neben den stilistischen Eigen-
arten auch der Umstand, daß die Figur in
unverkennbarer Anlehnung an ein französisches
Vorbild entstanden ist. Die rein äußere
Nebeneinanderstellung erweist, daß dieMadonna
von St. Die und die im Kunstgewerbemuseum
zu Köln unter ganz denselben Einflüssen, ja,
daß letztere in direkter Anlehnung an jene
entstanden. Die Kölner Figur hat etwas
Fremdes, nicht direkt Kölnisches, hat das vor
allem auch in Haltung und Kostüm. Die
ausgeprägte Wiedergabe der weit auseinander
stehenden Brüste finden wir wohl auf den
thronenden Madonnen, die rund 1400 ihr
Entstehen fanden, nicht aber bei den Stand-
figuren früherer Zeit mit ausgeprägt kölnischem
Typus; ich erinnere an das Denkmal in der
Stadtmauer bei der Ulrepforte sowie an Einzel-
figuren der „Sammlung Schnütgen". Fremd
ist die Haartracht und um diese Zeit auch
das Kopftuch, das mit der Wende des XV.
Jahrh. wieder auftaucht. Am auffälligsten ist
die Verwandtschaft im Kopftypus beider
Madonnen, die Haltung, die Einwickelung
der Kinnladen zum Halse, der ungewöhnlich
schmale Mund und der im Lächeln noch
ernste, melancholische Ausdruck. Von feinstem
Naturgefühl zeugen die kokett angesetzte —
leider verstümmelte — Rechte, und die fleischige,
fein bewegte Linke der Kölner Figur, ganz
im Gegensatz zu den meisten anderen Skulp-
turen bis zu den Mensafiguren des Domes
hin, die gerade darin etwas Flüchtiges, Un-
fertiges haben. Die Krone der Madonna ist
genau die des französischen Vorbildes: einzelne
Rosenzweige, leider der oberen Teile beraubt.
Bezüglich der Übereinstimmungen sei besonders
aufmerksam gemacht auf das Motiv des Auf-
stützens des rechten Armes beim Kinde auf
das Schlüsselbein der Mutter, auf die horizon-
tale Stoßfalte über dem linken Fuße des Kindes
usf. Dennoch hat sie auch ihre eigenen
Motive, so vor allem das des Mantelwurfes,
das stärkere Anschmiegen des flüssigen Stoffes
an den Körper, das Fehlen der scharfen
eckigen Falten, die bei ihr etwas weicher und
flauer ausgefallen sind. P. Perdrizet bildet
in der Revue de l'Art chretienne die Madonna
von St. Die ab und vergleicht sie unter rein
ikonographischem Gesichtspunkt als „Sponsa

Dei" mit zwei weiteren Madonnenfiguren, von
denen die eine in Maxeville bei Nancy, die
zweite (mit ergänztem Kopf) im Cluny sich
befindet4). Nicht nur der Gegenstand bzw.
Gedanke der Darstellung schweißt alle diese
Figuren zusammen, auch ihr Stil weist un-
verkennbar auf eine Gegend, wenn nicht eine
Werkstatt, und, wie auch Perdrizet glaubt, es
liegt kein Grund vor, den Fundort Lothringen
nicht auch als Entstehungsort zu bezeichnen.
Sollten nicht im Schatten der Dombauhütten
dort, ich denke vorerst an Metz, auch gute
Bildhauerstellen gestanden haben ? Den Figuren
ist die stark vorwärts schreitende Bewegung
gemeinsam, die ein feinsinniges Gegengewicht
findet durch das schleppend nachgezogene
Spielbein; sie sind breit und kräftig fleischig;
besonders sorgfältig sind die ungemein bewegten
Handrücken. Die breit behäbige Betonung
des Körpers als ein greifbares wirkliches Ding,
das durch noch so reiche Stoftbehänge sich
durchzwängt, die unendlich biegsame und
schmiegsame, fast gestusartige Bewegung der
vollen Glieder, die mit der Wucht des Körpers
scheinbar kontrastierende Elastizität, das alles
sind nicht gerade Resultate einer vom Genuß
abstrahierenden künstlerischen Kraft, als viel-
mehr Äußerungen eines Temperamentes, das
dem Wirklichkeitsleben fast bedenklich nahe
steht. Dazu paßt trefflich, ein spontanes Be-
kenntnis dieser Strömung ist die zu unserer
Gruppe gehörende Madonna von Maxeville, bei
der das Kind mit dem am vollen, fleischigen
Finger der Madonna steckenden Ringe spielt,
den diese ihm hinhält. Die französische Kunst
hat den hohen Berg überschritten und geht
rückseitig wieder in weniger luftige und sonnige
Gebiete.

Und das wurde der Kölner Plastik als
triebfähiges Reis aufgepfropft in solchen
Stücken. Sind sie importiert auf dem Wasser-
wege, fertigten einheimische Künstler sie nach
früher geschauten Originalen, oder kamen die
Welschen zu uns ins Land als die Lehrer
ihrer Heimatkunst? Jedenfalls ist die Kölner
Figur für die Entwicklungsgeschichte heimischer
Plastik von weittragender Bedeutung, sie ist
eines der seltenen Bindeglieder zwischen
Heimatkunst und fremdländischer Art.

Köln. Fritz Wi tte.

*) »Revue de l'Art ehret.« XXV (1907) S. 392 ff.
 
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