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Zeitschrift für christliche Kunst — 24.1911

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Humann, Georg: Ottonische Baukunst in Essen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4275#0066

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99

1911. — ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.

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eines großen Glockenturms übergeleitet, der
den ganzen Bau wirkungsvoll bekrönt. Ober-
halb der mit Pultdächern versehenen, seitlichen
Räume lösen sich die Wendeltreppen aus der
Mauermasse und nehmen hier, in ihrem oberen
Geschoß, mehr den Charakter selbständiger
polygoner Türme an. (Die nebenstehende
Figur zeigt Horizontalschnitte in der Höhe
des unteren Umganges, der Empore und der
Emporkammern2).

Im Äußeren finden wir neben antikisieren-
den Gliederungen, Pilastern, Architraven und
korinthisierenden Kapitalen schon neue Ele-
mente: gekuppelte Fensteröffnungen sowie das
Würfel- und Kelchkapitäl. Die genannten
Fenster sind im Turm zwei-
teilig mit einer kreisrunden
Durchbrechung im Bogenfelde,
in den tieferen Geschossen
teils zwei-, teils schon dreiteilig.
Auch ein Rundbogenfries ziert
die Westseite. Ob er ursprüng-
lich ist oder eine Zufügung
aus der Zeit der vorletzten
Restauration, läßt sich nicht
mehr entscheiden. Er fehlt
auf einer älteren, von F. v.
Quast veröffentlichten Zeich-
nung3), könnte aber viel-
leicht damals noch in Spuren
bzw. verwittert vorhanden ge-
wesen sein.

Das Essener Westwerk ist
so eigenartig, daß man es im
großen und ganzen, nicht, wie
dies früher fast allgemein ge-
schehen ist, als eine Nachahmung der Aachener
Pfalzkirche bezeichnen darf. Nur die polygone
Form des Chores und die doppelte Säulen-
stellung in den Emporenöffnungen könnten
nach dem Vorbilde des Aachener Zentralbaues
geschaffen sein, obwohl auch hier die Mög-
lichkeit einer Beeinflussung durch gemeinsame
ältere Vorbilder nicht ausgeschlossen ist4).

*) Vertikalschnitte und äußere Ansicht bei Hamann,
»Der Westbau des Münsters zu Essen, 1890, Essen,
Baedeker.

s) .Zeitschrift für christl. Archäologie und Kunst«,
herausgegeben von F. v. Quast und Otte, Bd. I,
1856, Tat II.

4) Vgl. meine Abhandlung in den Bonner Jahr-
büchern, Bd.93, 1892, S. 30, Wörmann, »Geschichte
der Kunst aller Zeiten und Völker«, Bd. II, 1905,
S. 98, ist dieser Ansicht beigetreten.

Für die damalige Zeit ist der Essener West-
bau viel zu kunstvoll, es erscheint namentlich
die Eingliederung der Wendeltreppen so eigen-
artig, geradezu beispiellos, daß das Werk keines-
falls von einem einheimischen bzw. deutschen
Baumeister herrühren kann. Zunächst dürfte
man aus mehreren Gründen, die hier ausein-
ander zu setzen zu weit führen würde, an einen
lombardischen Meister denken.

Das Eigenartige in der Komposition könnte
wohl am ersten in den örtlichen Verhältnissen
und Bedürfnissen eine annehmbare Erklärung
finden. Der ältere Stiftungshau besaß wahr-
scheinlich weder einen Glockenturm noch
einen Westchor. Es waren dies aber Bestand-
teile, welche man zur Zeit der
baulichen Erweiterung bei
größeren Abteikirchen nicht
gerne vermissen mochte. Zu-
dem durfte einer Nonnen-
kirche die Westempore nicht
fehlen. Diese drei Bestand-
teile, einschließlich der ver-
bindenden Treppentürme,
ließen sich aber wohl kaum
in geschickterer Weise ver-
schmelzen, als dies im Essener
Westbau geschehen ist. Nur
bei dieser Erklärung verliert
der Bau alles das, was uns
als gesucht und erkünstelt
entgegentritt. Aus diesem
Gesichtspunkte, nicht aus dem
Bestreben, durchaus ein älteres
Bauwerk (Aachen) nachzu-
ahmen, ließe sich vielleicht
auch die polygone Form des Westchores ein-
schließlich der doppelten Säulenstellungen
zwanglos erklären. Denn die letzteren wirken
bei dem Chor einigermaßen raumschließend,
ohne den Durchblick von der Empore ins
Kirchenschiff zu behindern.

Als Erbauerin des Essener Westwerkes ist
wohl die Äbtissin Mathilde, eine Tochter
Liudolfs von Schwaben, also eine Enkelin
Ottos des Großen, zu betrachten, welche von
ca. 973 — 1011 dem Stifte vorstand. Von ihr
stammen auch mehrere der erwähnten Essener
Prachtwerke der Goldschmiedekunst. Auf einem
der vier, mit Schmelztafeln, Edelsteinen und
Filigran geschmückten Vortragekreuze ist sie
mit ihrem Bruder Otto, Herzog von Schwaben
und Bayern, abgebildet.
 
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