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Zeitschrift für christliche Kunst — 33.1920

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Witte, Fritz: Mystik und Kreuzesbild um 1300
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https://doi.org/10.11588/diglit.4307#0132

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Nr. 9,10

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST.

119

Andreas, ist früher als diese. Die Pieta von Andreas weist bereits im
Kopf der Madonna den naturalisierenden Typ der Kölner Reliquienbüsten
auf. Kruzifix in Maria im Kapitol, Kruzifix in St. Severin, Pieta-Röttgen,
Pieta-Andreas, das ist die klare Entwicklungsfolge, die über drei Viertel des
XIV. Jahrh. sich erstreckt, die den Erweis erbringt, wie sehr das im Kapitol
angeschlagene Thema für die Folgezeit nachwirkte. Stilistisch paßt der
Kruzifixus gar nicht anderswo hin als in die Zeit, in die die Schrifttafel ihn
versetzt. Es ist verhängnisvoll für die Da-
tierung unserer heimischenPlastik des enden-
den XIII. und beginnenden XIV. Jahrh.,
wollen wir an sie herantreten mit der ab-
weisenden Geste auf einen um 1 300 unmög-
lich sein sollenden Realismus; wir könnten
an der Hand einer Reihe von zeitlich sicher
festzulegenden Plastiken und Malereien un-
umstößlich nachweisen, daß diese falsche
Bewertung des Realismus gerade in den
Passionsdarstellungen zu vielen irrigen Fest-
legungen geführt hat. Mich nimmt nur
wunder, daß keiner dabei hingewiesen hat
auf den nach 1270 zu datierenden Kruzi-
fixus vom Naumburger Lettner, der eigent-
lich durch einen verblüffenden Realismus,
der an Naturalismus heranreicht, einen
frühen Vorläufer der von uns herangezogenen
Gruppe bedeutet5. Letztere weist ein zwei-
faches Charakteristikum auf: das Gabelkreuz
und den ungewöhnlich realistischen Christus
patiens. Das Gabelkreuz tritt in Italien be-
reits an der Kanzel des Niccolo Pisano in
Siena vor 1278 auf; er findet sich auch
mehrfach an Kruzifixen weltverlorener
Kirchen in den östlichen Teilen Italiens, in
den Abruzzen, Apulien usf., wo diese
Kreuze bezeichnenderweise vielfach „der
Kruzifixus des hl. Franziskus" genannt wer-
den. Wo es in Deutschland im Westen und Norden auftritt, sehen wir
es in eigentlich selbstverständlicher Verbindung mit dem realistisch behan-
delten Korpus. Diese Kreuze gehören ausschließlich fast der Wende des
XIII. Jahrh. an und scheinen sich um die Mitte des XIV. Jahrh. zu ver-
lieren, bzw. einem neuen Typus von gemildertem Realismus Platz zu
machen. Es ist im Zusammenhang mit der stilistischen Festlegung des an-
gezogenen Kruzifixtypus zum mindesten interessant, daß uns aus dem Jahre
1306, also zwei Jahre nach der Einweihung des Kreuzbildes in Maria im
Kapitol in Köln, ein Bericht erhalten ist, wonach in London in jenem Jahre

Abb. 1.

Kruzifixus in der protest, Kirche
zu Gehrden, Hannover.

Abgeb. bei Dehio, „Geschichte der deutschen Kunst". Abb. I. Teil. S. 429.
 
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