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Zeitschrift für christliche Kunst — 33.1920

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Beitz, Egid: Grünewalds Golgatha
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https://doi.org/10.11588/diglit.4307#0141

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128

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST. Nr. 9/10

Schmerz. Die Erregung ist nicht mehr auf das Innere beschränkt gebheben, sie
bricht sich nach außen Bahn und teilt sich dem Gewände mit, so daß dieses in
mächtigen Falten wogt. Demgegenüber ist auf der linken Bildfläche wieder Stille.
Der Sohn ist tot! Da kann die Mutter nicht mehr laut klagen. Von unsagbarem
Schmerz ist ihr Wesen zerknittert, zerknittert ist auch das Gefältel ihres Gewandes.

Als Meister der Gegensätze stellt Grünewald das Riesenhafte neben das Kleine,
das Laute neben das Stille, das Helle neben das Dunkle, das Leben neben den
Tod. Das alles gibt seinen Werken die ungeheure Bewegung, die unwiderstehlich
in die Herzen der Beschauer stürmt und dort zum Thema der Zeit ruft: Christus
muß wachsen!

Mit besonderer Meisterschaft hat Grünewald auf dem Isenheimer Altar die
Kreuzigung, die farblich und durch die größere Anzahl der Figuren das Über-
gewicht nach links zu bekommen drohte, durch die Predella wieder ins Gleich-
gewicht gebracht. Hier bettet er den Christuskörper ganz auf die rechte Bildseite
und bringt diesen Teil des Altares auch koloristisch mit der darüber befindlichen
Kreuzigung zusammen, indem er das weiße Kopftuch der Maria auf der Be-
w^inung mit dem Lendentuch des Gekreuzigten, der Inschrifttafel, dem Buch des
Johannes, dem Lamm und auf der gegenüberliegenden Seite mit der umsinkenden
Maria zusammenklingen läßt. Infolgedessen geht durch die beiden Darstellungen
eine Raute, die von starken weißen Tönen gebildet wird und deren untere Spitze
sich in der Predella im Kopftuch der Maria befindet.

Ungetrübt heiter ist Grünewald nie. Golgathaahnung durchbebt selbst seine
Madonnenbilder. Der Muttergottes liegt auch hier ein Weh bereits in den Zügen.
Das Kind scheint zwar zu spielen, aber es hat nicht mehr die Sorglosigkeit der
Kinder, es ist seltsam reif und erwachsen, und zumal die ärmliche, zerrissene
Windel, in der es von der Mutter auf dem Isenheimer Altar gehalten wird, erinnert
vorbedeutungsvoll an die zerfetzten Lendentücher Grünewaldscher Kreuzigungen.

Die beiden Madonnenbilder, die wir von Grünewald kennen, sind fast ein
Jahrzehnt auseinander und doch sehr nahe miteinander verwandt. Die Isenheimer
Madonna ist herber, archaischer, die Stuppacher weicher und reifer. Ihr Gewand
breitet sich beide Male in reichem Gewoge am Boden, und dann steigen seineLinien
steil empor, erst dunkel und dann in dem Goldhaar vom Licht glücklich um-
schimmert. Es ist seltsam, selbst diesen Linien, die dem Meister zweimal führend
zur Schilderung höchsten Mutterglückes dienten, nimmt er an seinem Lebensende
auch diesen Glücksgehalt. Aus der Sphäre von Betlehem zieht er sie in die Sphäre
von Golgatha und läßt sie in seinem letzten Werke auf der Aschaffenburger Be-
weinung aufsteigen und abbrechen. Dort liegt der Körper des Heilandes tot und
mit allen Merkmalen vergangenen Schmerzes, wie ihn Grünewald zeit seines
Lebens immer gemalt hat, nur diesmal in höchster Vollendung und höchster
künstlerischer Schönheit. Hinter dem Leichnam kniet Maria. Aus den am Boden
liegenden Falten steigt ihr Mantel auf wie auf den Madonnenbildern des Meisters.
Aber die aufsteigenden Mantellinien sind diesmal nicht zu Ende geführt, sie
brechen alsbald schroff am oberen Bildrande ab. Nur zwei unbeschreiblich schöne,
blasse Frauenhände, die sich über dem Haupt des Toten falten, werden sichtbar.

Diese Lösung des Pietaproblems ist so eigenartig, daß man immer wieder
geglaubt hat, es müsse am obern Teil der Tafel ein Stück fehlen, welches die
ganze trauernde Gestalt der Maria enthalten habe. Das aber ist nicht der Fall.
 
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