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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1902)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Uebungen im Gedichtlesen, [1]
DOI Artikel:
Batka, Richard: Strauß gegen Wagner?
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0609

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andcrs Kcllcr. Dic einmal crregte Vorstellung der „Fensterlein" wird durch
keine abstrakte Wendung im Mindesten gestört: die Phantasie des Hörers (wir
möchtcn sast sagen, des Zuschauers) wird in Ruhe dort gelassen, wo sie weilt:
in dem Stübchen, in dem sie sich als Seele fühlt, die durch zwei Fensterlein
in die Gotteswclt hinaussieht. Nur, datz die Fenster sich verdunkeln. Aber die
vom Schauen gesättigte Scele b cgehrt nicht mchr, die Befriedigung tritt ein,
die auch das „Ncapel sehn und sterbcn" atmet: die Seele hat Ruh, streift die
Wanderschuh ab, legt sich hin und genieht noch die Bilder, die sie gesammelt,
wie ein Müder vor dem Schlaf, genietzt ihrer, bis sie schwächor und schwächer
und kleiner und kleiner werden und schliehlich, wie der Schlummer kommt,
„vergehn, wie vor eines Falters Flügelwehn" . . .

Es ist dio vcrklärteste Darstellung vom Sterben, die sich denken lüht, und
es ist nur Darstellung — in diesem ganzen Gedichte von Tod und Sterben
spricht Keller von Tod und Sterben mit keinem Wortl . . . Nun aber
richtet er sich aus den Träumen auf; er sieht ja die Sonne, er lebt ja nochl
Mit dem Aufruf wiederum an seine Augen schlieht er, indem die innige Weh-
mutsstimmung, die oinem Gegensatze entsprang, wiederum als Gegensatz zur
Steigerung der Lebensfreude führt, in wundervollem Aufschwung. — Man
vergleiche den Ausdruck der beiden ersten mit dem der beiden letzten Zeilen auf
die Entwickelung innerhalb dieses Kreises hin.

Und dann raten wir dem, dem das Gedicht seine Seele noch nicht er-
schlossen hat, es noch einmal und vielleicht nach einiger Zeit abermals zu lesen.
Tiefe Gedichte gehen ja auch dem Empfänglichen kaum jenials beim erstcn Les cn
auf. Denn auch das Erfassen eines tiefen Gedichtes, ich meine: cines solchen,
das aus dem Unbcwuhten unsres Seelenlebens vorher noch nicht gebannte Ge-
fühle ans Licht heraufruft, ist immer selber eine Art von Konzeption, weun
auch nur von nachschaffender. Allmählich wie dem Dichter die Vision er-
dämmcrte, crdümmert sie dem Nach-Dichter, d. h. dem wirklich vertieften Leser.
Dann aber vollendet sie sich (gleichfalls wie dcm Dichter) plötzlich blitzartig
schnell, und nun ist der Gehalt des Gedichtes der empfangendcn Persönlichkeit
fürs Leben zugcfügt.

Auf die sprachliche Form dieses lprischon Krystalls und auf Einzelheiten
darin kommen wir vielleicht gelegentlich noch zurück. A.

8lrauh gegen Magner?

Es war um die Mitte dcr ncunzigcr Jahre. Richard Strauß
dirigierte in Bayrcuth. Seine Freunde erblicktcn darin mit Genugthuung
die öffentliche Weihe seines Genius, und auch den Fernstehenden der
großen, auf dem Gipfel ihrer Weltmacht angelangten Wagnerpartei er-
schien er nun gleichsam kanonisiert. Daß er, dessen Jugendwerke unver-
kennbare Brahmssche Einflüsse zeigen, sich aus innerer, künstlerischer
Notwendigkeit dem Bayrcuther Glauben zugewandt hatte, während man
zuvor an namhaften Künstlern einige unliebsame Entwicklungen in der
entgegengesetzten Richtung erleben mußte, wurde besonders freudig be-
grüßt, und da sein strahlendes Talent die vffentliche Aufmerksamkeit
immer mehr auf sich lenkte, gewvhnte man sich daran, in ihm wenn
nicht schlechtweg den, so doch einen der vornehmsten Hüter und Mehrer
des Wagnerschen Erbes zu crblicken. Untcrdessen bereitete sich, ohne daß
die Leute „draußcn" vicl davon erfuhren, schon dic innere Krise vor.

2. Märzbeft 1902

SbZ
 
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