Genreszenen eines Repin oder Ssurikow, eines
Korowin oder Wasnetzow, der Heiligenbilder
Nesterows, der elegischen Landschaften Lewitans,
wie soll es nun die zahlreichen modernen Ismen
und deren ebenso zahlreichen Kunst- und Revo-
lutiontheorien aufnehmen? Wie soll es die beiden
Revolutionen, die politisch-soziale und die künst-
lerisch-ästethische unter den gleichen Hut bringen?
Auf jeden Fall verlangt die geistige Wirrnis
ebenfall nach Klärung. Aber wie kann und soll
die Klärung erfolgen, wenn die Weltanschauung
der jetzt herrschenden Partei der Bolschewiki,
der Marxismus, noch keine ausgebildete Aesthetik
der bildenden Kunst besitzt, wenn diese ihre
Aesthetik noch mit den Kategorien des bürger-
lichen neunzehnten Jahrhunderte richtet? Ist
nach dem künstlerischen Chaos der Revolutions-
tage nicht das Steuer herumzuwerfen, ist nicht
sogar der Weg, den die Kunst fortan beschreiten
soll, vorzuzeichnen sind nicht Wegweiser auf-
zurichten? Ist nicht die ungebärdige und unge-
bändigte Freiheit einzuschränken, wie man es
jetzt im Schulwesen tun muss, in der Wiederher-
stellung der Militärhierarchie, in der Ordnung des
Familienrechtes? Sind nicht Richtlinien aufzu-
stellen, die die Kunst in den Gang der gesell-
schaftlichen Rekonstruktion einordnen? Ist die
Kunst nicht weltanschaulich zu engagieren, da ja
die Revolution ebenfalls weltanschaulich fundiert
ist?
Zweifellos ist eine erste Periode, die des wirren
Durcheinander und der völligen Freiheit beendet;
eine zweite Periode beginnt mit dem Manifest
der ,,Assoziation der Künstler des revolutionären
Russland": ,,...Die alten Künstlergruppierun-
gen haben ihren Sinn verloren, die Grenzen haben
sich verwischt, sowohl hinsichtlich ihrer Ideologie
als auch hinsichtlich der Form; sie sind lediglich
noch Gruppen von Menschen, welche nur durch
ihre persönlichen Beziehungen verbunden sind,
aber keine ideologische Grundlage und keinen
Inhalt besitzen. Den Inhalt der Kunst aber halten
wir für das Kennzeichnen eines wahrhaften
Kunstwerken. Der Wunsch, diesen Inhalt aus-
zudrücken, gebietet uns Künstlern des revolutio-
nären Russland die Vereinigung, besonders im
Hinblick auf die vor uns stehenden, vorgezeichne-
ten Aufgaben ..."
Die Würfel sind gefallen. Kurz vor Erscheinen
dieses Manifestes verlässt Kandinsky Russland
und ihm folgt ein Teil der Abstrakten und Kon-
struktivsten: etliche wie Annenkow oder Man-
surow allerdings erst Jahre später; einige wie
Lissitzky oder Malewitsch kehren wieder zurück,
andere wie Rodschenko bleiben im Lande. Meist
schaffen sie unbeirrt weiter, teils administrativ
stark behindert, wenn nicht geschmäht und ver-
folgt, teils geachtet und als Kunstpädagogen tätig.
Dreiviertel Jahre vor seinem Tod schreibt Lenin
am 26. Mai 1923 in der Prawda: ,,Bei uns war der
politische und soziale Umsturz nur Vorläufer
jenes kulturellen Umsturzes, jener Revolution,
an deren Schwelle wir immerhin schon stehen . . .
Uns genügt jetzt diese kulturelle Revolution,
um zu einem völlig sozialistischen Land zu werden;
aber diese Kulturrevolution erfordert ungeheure
Anstrengungen, sowohl rem kultureller ... als
auch materieller Art, weil ja, damit wir uns in ein
kulturelles Land verwandeln können, eine gewisse
materielle Basis notwendig ist." — Die Auseinan-
dersetzung Kandinsky — Lenin ist damit beendet.
*
Nicht beendet ist sie für ihre Nachfolger; im
Gegenteil, der Streit beginnt immer wieder von
neuem, um mit der Zeit die Kunst selber krass in
Mitleidenschaft zu ziehen. Je mehr sich einerseits
der neue Staat durch eine harte Diktatur festigt,
anderseits jedoch isoliert und auf sich selbst zurück-
geworfen wird, je mehr der Aufbau der neuen
Gesellschaft intensivere Anstrengungen verlangt
und die umfassende Einheit des Willens fordert,
desto mehr wird das gesamte kulturelle Schaffen
diesem Willen untergeordnet, das Engagement
des Künstlers wird aus einem weiten, freien En-
gagement innerhalb der künstlerisch-gesellschaftli-
chen Tätigkeit zu einem engen, diktierten En-
gagement der weltanschaulichen Doktrin; ein
Vorgang allerdings, der nicht neu ist in der
Geschichte : man denke nur an die kirchliche Kunst
der tridentinischen katholischen Gegenreformation,
die den Maler bis in die Farbgebung hinein dem
Rat und Urteil des Theologen unterwarf.
Und zudem wirkt sich der schwerwiegende
Umstand aus, dass kein malerisches Genie exi-
stiert, das einen künstlerischen Durchbruch voll-
zieht, indem es den neuen Inhalt, eben den Aufbau
einer neuen Gesellschaft, durch eine dem Inhalt
entsprechende neue Form einfängt. Keiner malt
166
Korowin oder Wasnetzow, der Heiligenbilder
Nesterows, der elegischen Landschaften Lewitans,
wie soll es nun die zahlreichen modernen Ismen
und deren ebenso zahlreichen Kunst- und Revo-
lutiontheorien aufnehmen? Wie soll es die beiden
Revolutionen, die politisch-soziale und die künst-
lerisch-ästethische unter den gleichen Hut bringen?
Auf jeden Fall verlangt die geistige Wirrnis
ebenfall nach Klärung. Aber wie kann und soll
die Klärung erfolgen, wenn die Weltanschauung
der jetzt herrschenden Partei der Bolschewiki,
der Marxismus, noch keine ausgebildete Aesthetik
der bildenden Kunst besitzt, wenn diese ihre
Aesthetik noch mit den Kategorien des bürger-
lichen neunzehnten Jahrhunderte richtet? Ist
nach dem künstlerischen Chaos der Revolutions-
tage nicht das Steuer herumzuwerfen, ist nicht
sogar der Weg, den die Kunst fortan beschreiten
soll, vorzuzeichnen sind nicht Wegweiser auf-
zurichten? Ist nicht die ungebärdige und unge-
bändigte Freiheit einzuschränken, wie man es
jetzt im Schulwesen tun muss, in der Wiederher-
stellung der Militärhierarchie, in der Ordnung des
Familienrechtes? Sind nicht Richtlinien aufzu-
stellen, die die Kunst in den Gang der gesell-
schaftlichen Rekonstruktion einordnen? Ist die
Kunst nicht weltanschaulich zu engagieren, da ja
die Revolution ebenfalls weltanschaulich fundiert
ist?
Zweifellos ist eine erste Periode, die des wirren
Durcheinander und der völligen Freiheit beendet;
eine zweite Periode beginnt mit dem Manifest
der ,,Assoziation der Künstler des revolutionären
Russland": ,,...Die alten Künstlergruppierun-
gen haben ihren Sinn verloren, die Grenzen haben
sich verwischt, sowohl hinsichtlich ihrer Ideologie
als auch hinsichtlich der Form; sie sind lediglich
noch Gruppen von Menschen, welche nur durch
ihre persönlichen Beziehungen verbunden sind,
aber keine ideologische Grundlage und keinen
Inhalt besitzen. Den Inhalt der Kunst aber halten
wir für das Kennzeichnen eines wahrhaften
Kunstwerken. Der Wunsch, diesen Inhalt aus-
zudrücken, gebietet uns Künstlern des revolutio-
nären Russland die Vereinigung, besonders im
Hinblick auf die vor uns stehenden, vorgezeichne-
ten Aufgaben ..."
Die Würfel sind gefallen. Kurz vor Erscheinen
dieses Manifestes verlässt Kandinsky Russland
und ihm folgt ein Teil der Abstrakten und Kon-
struktivsten: etliche wie Annenkow oder Man-
surow allerdings erst Jahre später; einige wie
Lissitzky oder Malewitsch kehren wieder zurück,
andere wie Rodschenko bleiben im Lande. Meist
schaffen sie unbeirrt weiter, teils administrativ
stark behindert, wenn nicht geschmäht und ver-
folgt, teils geachtet und als Kunstpädagogen tätig.
Dreiviertel Jahre vor seinem Tod schreibt Lenin
am 26. Mai 1923 in der Prawda: ,,Bei uns war der
politische und soziale Umsturz nur Vorläufer
jenes kulturellen Umsturzes, jener Revolution,
an deren Schwelle wir immerhin schon stehen . . .
Uns genügt jetzt diese kulturelle Revolution,
um zu einem völlig sozialistischen Land zu werden;
aber diese Kulturrevolution erfordert ungeheure
Anstrengungen, sowohl rem kultureller ... als
auch materieller Art, weil ja, damit wir uns in ein
kulturelles Land verwandeln können, eine gewisse
materielle Basis notwendig ist." — Die Auseinan-
dersetzung Kandinsky — Lenin ist damit beendet.
*
Nicht beendet ist sie für ihre Nachfolger; im
Gegenteil, der Streit beginnt immer wieder von
neuem, um mit der Zeit die Kunst selber krass in
Mitleidenschaft zu ziehen. Je mehr sich einerseits
der neue Staat durch eine harte Diktatur festigt,
anderseits jedoch isoliert und auf sich selbst zurück-
geworfen wird, je mehr der Aufbau der neuen
Gesellschaft intensivere Anstrengungen verlangt
und die umfassende Einheit des Willens fordert,
desto mehr wird das gesamte kulturelle Schaffen
diesem Willen untergeordnet, das Engagement
des Künstlers wird aus einem weiten, freien En-
gagement innerhalb der künstlerisch-gesellschaftli-
chen Tätigkeit zu einem engen, diktierten En-
gagement der weltanschaulichen Doktrin; ein
Vorgang allerdings, der nicht neu ist in der
Geschichte : man denke nur an die kirchliche Kunst
der tridentinischen katholischen Gegenreformation,
die den Maler bis in die Farbgebung hinein dem
Rat und Urteil des Theologen unterwarf.
Und zudem wirkt sich der schwerwiegende
Umstand aus, dass kein malerisches Genie exi-
stiert, das einen künstlerischen Durchbruch voll-
zieht, indem es den neuen Inhalt, eben den Aufbau
einer neuen Gesellschaft, durch eine dem Inhalt
entsprechende neue Form einfängt. Keiner malt
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