Einleitung
ι.
Theorie und Praxis sind zweierlei. Selten versucht die Praxis die direkte Anwendung der
Theorie, und die Theorie ist nicht unmittelbar der Praxis abgezogen. So spiegelt sich auch
in den ausgewählten kunsttheoretischen Quellen zur Landschaftsmalerei nicht die Ge-
schichte der Landschaftsmalerei. Theorie ist Überbau und liefert als solcher zweierlei:
Definitionen der Begriffe Kunst und Natur. Die Kunstdefinition hat primär Legitimations-
funktion, vor allem in der Frühphase der Kunsttheorie. Die Tätigkeit des Künstlers bedarf
in Abgrenzung zum Handwerk der Nobilitierung, wird zur freien, geistigen Tätigkeit im
Range einer Wissenschaft. In ihrer Geschichte reagiert die Definition der Kunst auf ihren
jeweiligen sozialen Status, formuliert Ansprüche, sorgt für Abgrenzungen, sucht die ge-
sellschaftliche Indienstnahme begrifflich zu Überhöhen. Die Naturdefinition rekurriert auf
philosophische Traditionen und reagiert zudem auf den jeweiligen Stand der Naturer-
kenntnis. Da Kunst vor allem anderen als Nachahmung der Natur begriffen wird, Nachah-
mung sich jedoch nicht in bloßer Naturtreue erschöpfen soll, sondern nach Überzeugung
der Theorie exemplarisch zu verfahren habe, der Künstler, je nach philosophischem Ver-
ständnis, im jeweiligen Naturbild den Typus oder das Ideal zur Anschauung bringen solle,
wird er nach diesem Verständnis zum Schöpfer, verfährt wie Gott, zumindest in Analogie
zu den göttlichen Prinzipien. Diese sollen dem Künstler, besondere Begabung vorausge-
setzt, vor allem über die Theorie zugänglich werden. Damm etwa Dürers vielfältige Be-
mühungen, hinter die (mathematischen) Geheimnisse der menschlichen Proportion zu
kommen. Die Kenntnisse von Anatomie und Perspektive schienen den Künstler des 15.
und 16. Jahrhunderts in den Stand zu setzen, alles darstellen zu können, und zwar theore-
tisch begründ- und nachprüfbar.
Im Zeitalter der eigentlich klassischen Kunsttheorie, also vom späteren 16. bis zum 18.
Jahrhundert, das zugleich das Zeitalter der akademischen Verfestigung der Kunstvorstellung
war, die von der Lehr- und Lembarkeit der Kunst ausging, wurde der Schöpferstatus des
Künstlers allerdings auch auf das Übernatürliche ausgeweitet. Das mochte seinem Ver-
ständnis oder etwa auch den Ansprüchen der Gegenreformation dienen, es war aber auch
nicht unproblematisch. Denn tendenziell öffnete es der künstlerischen Willkür Tür und
Tor. Die antike Theorie hat eben dies schon bei der Behandlung des Phantasiebegriffes
bedacht.1 Alle orthodoxe Theorie will Phantasie zwar zugestehen, aber doch kontrolliert
wissen, durch Vernunft, Verstand, Urteil.2 Die Kontrollfunktion übernimmt das Dekorum,
es regelt, was jeweils erlaubt, angemessen, hingehörig und gehörig ist. Fortschreitend
erscheint das Dekorum im Normenbewußtsein verankert. Mit ihm läßt sich u. a. gut dis-
kreditieren, verleumden, die Inquisition begründen. Michelangelos »Jüngstes Gericht«
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ι.
Theorie und Praxis sind zweierlei. Selten versucht die Praxis die direkte Anwendung der
Theorie, und die Theorie ist nicht unmittelbar der Praxis abgezogen. So spiegelt sich auch
in den ausgewählten kunsttheoretischen Quellen zur Landschaftsmalerei nicht die Ge-
schichte der Landschaftsmalerei. Theorie ist Überbau und liefert als solcher zweierlei:
Definitionen der Begriffe Kunst und Natur. Die Kunstdefinition hat primär Legitimations-
funktion, vor allem in der Frühphase der Kunsttheorie. Die Tätigkeit des Künstlers bedarf
in Abgrenzung zum Handwerk der Nobilitierung, wird zur freien, geistigen Tätigkeit im
Range einer Wissenschaft. In ihrer Geschichte reagiert die Definition der Kunst auf ihren
jeweiligen sozialen Status, formuliert Ansprüche, sorgt für Abgrenzungen, sucht die ge-
sellschaftliche Indienstnahme begrifflich zu Überhöhen. Die Naturdefinition rekurriert auf
philosophische Traditionen und reagiert zudem auf den jeweiligen Stand der Naturer-
kenntnis. Da Kunst vor allem anderen als Nachahmung der Natur begriffen wird, Nachah-
mung sich jedoch nicht in bloßer Naturtreue erschöpfen soll, sondern nach Überzeugung
der Theorie exemplarisch zu verfahren habe, der Künstler, je nach philosophischem Ver-
ständnis, im jeweiligen Naturbild den Typus oder das Ideal zur Anschauung bringen solle,
wird er nach diesem Verständnis zum Schöpfer, verfährt wie Gott, zumindest in Analogie
zu den göttlichen Prinzipien. Diese sollen dem Künstler, besondere Begabung vorausge-
setzt, vor allem über die Theorie zugänglich werden. Damm etwa Dürers vielfältige Be-
mühungen, hinter die (mathematischen) Geheimnisse der menschlichen Proportion zu
kommen. Die Kenntnisse von Anatomie und Perspektive schienen den Künstler des 15.
und 16. Jahrhunderts in den Stand zu setzen, alles darstellen zu können, und zwar theore-
tisch begründ- und nachprüfbar.
Im Zeitalter der eigentlich klassischen Kunsttheorie, also vom späteren 16. bis zum 18.
Jahrhundert, das zugleich das Zeitalter der akademischen Verfestigung der Kunstvorstellung
war, die von der Lehr- und Lembarkeit der Kunst ausging, wurde der Schöpferstatus des
Künstlers allerdings auch auf das Übernatürliche ausgeweitet. Das mochte seinem Ver-
ständnis oder etwa auch den Ansprüchen der Gegenreformation dienen, es war aber auch
nicht unproblematisch. Denn tendenziell öffnete es der künstlerischen Willkür Tür und
Tor. Die antike Theorie hat eben dies schon bei der Behandlung des Phantasiebegriffes
bedacht.1 Alle orthodoxe Theorie will Phantasie zwar zugestehen, aber doch kontrolliert
wissen, durch Vernunft, Verstand, Urteil.2 Die Kontrollfunktion übernimmt das Dekorum,
es regelt, was jeweils erlaubt, angemessen, hingehörig und gehörig ist. Fortschreitend
erscheint das Dekorum im Normenbewußtsein verankert. Mit ihm läßt sich u. a. gut dis-
kreditieren, verleumden, die Inquisition begründen. Michelangelos »Jüngstes Gericht«
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