29. Christian Ludwig von Hagedorn
Betrachtungen über die Mahlerey (1762)
Die Landschaft überhaupt.
[...] Das Grosse, das Ungemeine, und das Schöne haben das vorzüglichste Recht
unsere Einbildungskraft zu ergötzen. Wird man einigen Landschaften, Einöden,
Felsenklüften und besonders Wasserfällen des jüngem Poussins, des Salvator Rosa
und des Everdingen diejenige Wirkung absprechen können, die, so zu reden, einen
heiligen Schauer erwecket? Wie nahe ist derselbe mit dem Gefühle des Erhabenen
verwandt! Nur dem Gefühle darf man diese Frage vorlegen.
Schon aus diesem Grunde würde man der Landschaft den ersten Rang nach der
Geschichte einräumen müssen. Lairesse, der grosse Geschichtmahler, hat dieses er-
kannt; er hat der Landschaft bey nahe den wichtigsten Theil seiner Untersuchungen
gegönnet. [...]
Die Beschaffenheit der Luft und der zugleich angedeuteten Zeit behauptet auch bey
der Haltung denjenigen Einfluß, den sie in die Beleuchtung aller Gemählde hat. Die
Luft ist wenigstens in der Landschaft, und in Ansehung der Beleuchtung und Hal-
tung nach der Luftperspectiv, dasjenige, was der Horizont in Absicht auf die eigent-
liche Linienperspectiv, oder der Schlußton in einem musikalischen Stück ist. Sie giebt
folglich die mehrere oder mindere Heiterkeit des Gemähldes, oder, bey einem durch
trübes Gewölke schnell einfallendem Lichte, die Erhöhung und Schwächung der
Farbe der übrigen Gegenstände in so harmonischen Verhältnissen an, daß solche
vorlängst mit den Verhältnissen in der Tonkunst verglichen worden. [...]
Gesperrte Landschaften, Wasserfälle und Hirten-Scenen.
[...] Bey dem Wasserfalle soll das vordere Gebirge sich herausnehmen, und das her-
abstürzende Wasser in Schaum aufgelöset, und in Strudel und Wellen fortfliessend,
die Aufmerksamkeit des Zuschauers erfüllen. So umziehe dann Nebel und Duft das
entlegenere Gebirge, wohin das Auge ohne Nachtheil der Haupthandlung nicht drin-
gen kann; für dessen Reichthum sey schon im Mittelgründe Sorge getragen. Nur
meide man beym hohen felsigten Vorgrunde ein Gebirge von gleicher scheinbaren
Höhe im Mittelgründe. Dadurch schneiden einige Künstler die Luft überall fast gleich
ab, und ermüden das Auge des Zuschauers. Es wird nicht nur die Unterordnung
verletzet, sondern auch die Ungleichheit der Gegenstände, die Grundlehre aller
Anordnung oder Vertheilung, gar vergessen. [...]
Hier will das Auge sehen; dort will es ruhen. Ist die Absicht des Künstlers, dasselbe
auf das vordere Hauptwerk zu heften; so darf er es in keine mannichfaltige Feme
führen, und durch deren Ausführlichkeit die vornehmste Wirkung hemmen. Vielmehr
wird die Landschaft gesperrt, wie die Künstler reden, und das Feld der hirtenmässigen
Handlung (um näher bey diesem Bey spiele zu bleiben) mit Bergen und Gesträuch
eingeschlossen. [...]
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Betrachtungen über die Mahlerey (1762)
Die Landschaft überhaupt.
[...] Das Grosse, das Ungemeine, und das Schöne haben das vorzüglichste Recht
unsere Einbildungskraft zu ergötzen. Wird man einigen Landschaften, Einöden,
Felsenklüften und besonders Wasserfällen des jüngem Poussins, des Salvator Rosa
und des Everdingen diejenige Wirkung absprechen können, die, so zu reden, einen
heiligen Schauer erwecket? Wie nahe ist derselbe mit dem Gefühle des Erhabenen
verwandt! Nur dem Gefühle darf man diese Frage vorlegen.
Schon aus diesem Grunde würde man der Landschaft den ersten Rang nach der
Geschichte einräumen müssen. Lairesse, der grosse Geschichtmahler, hat dieses er-
kannt; er hat der Landschaft bey nahe den wichtigsten Theil seiner Untersuchungen
gegönnet. [...]
Die Beschaffenheit der Luft und der zugleich angedeuteten Zeit behauptet auch bey
der Haltung denjenigen Einfluß, den sie in die Beleuchtung aller Gemählde hat. Die
Luft ist wenigstens in der Landschaft, und in Ansehung der Beleuchtung und Hal-
tung nach der Luftperspectiv, dasjenige, was der Horizont in Absicht auf die eigent-
liche Linienperspectiv, oder der Schlußton in einem musikalischen Stück ist. Sie giebt
folglich die mehrere oder mindere Heiterkeit des Gemähldes, oder, bey einem durch
trübes Gewölke schnell einfallendem Lichte, die Erhöhung und Schwächung der
Farbe der übrigen Gegenstände in so harmonischen Verhältnissen an, daß solche
vorlängst mit den Verhältnissen in der Tonkunst verglichen worden. [...]
Gesperrte Landschaften, Wasserfälle und Hirten-Scenen.
[...] Bey dem Wasserfalle soll das vordere Gebirge sich herausnehmen, und das her-
abstürzende Wasser in Schaum aufgelöset, und in Strudel und Wellen fortfliessend,
die Aufmerksamkeit des Zuschauers erfüllen. So umziehe dann Nebel und Duft das
entlegenere Gebirge, wohin das Auge ohne Nachtheil der Haupthandlung nicht drin-
gen kann; für dessen Reichthum sey schon im Mittelgründe Sorge getragen. Nur
meide man beym hohen felsigten Vorgrunde ein Gebirge von gleicher scheinbaren
Höhe im Mittelgründe. Dadurch schneiden einige Künstler die Luft überall fast gleich
ab, und ermüden das Auge des Zuschauers. Es wird nicht nur die Unterordnung
verletzet, sondern auch die Ungleichheit der Gegenstände, die Grundlehre aller
Anordnung oder Vertheilung, gar vergessen. [...]
Hier will das Auge sehen; dort will es ruhen. Ist die Absicht des Künstlers, dasselbe
auf das vordere Hauptwerk zu heften; so darf er es in keine mannichfaltige Feme
führen, und durch deren Ausführlichkeit die vornehmste Wirkung hemmen. Vielmehr
wird die Landschaft gesperrt, wie die Künstler reden, und das Feld der hirtenmässigen
Handlung (um näher bey diesem Bey spiele zu bleiben) mit Bergen und Gesträuch
eingeschlossen. [...]
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