28. Albrecht von Haller
Die Alpen (1729)
IV
[...] Das Schicksal hat euch hier kein Tempe zugesprochen,
Die Wolken, die ihr trinkt, sind schwer von Reif und Strahl;
Der lange Winter kürzt des Frühlings späte Wochen,
Und ein verewigt Eis umringt das kühle Thal;
Doch eurer Sitten Werth hat alles das verbessert, [...]
VI.
Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen,
Allein dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt;
Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen,
Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind; [...]
Dann, wo die Freyheit herrscht, wird alle Mühe minder,
Die Felsen selbst beblühmt, und Boreas gelinder.
XXXI.
Bald aber schließt ein Kreis um einen muntern Alten,
Der die Natur erforscht, und ihre Schönheit kennt;
Der Kräuter Wunder-Kraft und ändernde Gestalten
Hat längst sein Witz durchsucht, und jedes Moos benennt;
Er wirft den scharfen Blick in unterird’sche Grüfte,
Die Erde deckt vor ihm umsonst ihr falbes Gold,
Er dringet durch die Luft, und sieht die Schwefel-Düfte,
In deren feuchter Schoos gefangner Donner rollt:
Er kennt sein Vaterland, und weiß an dessen Schätzen
Sein immerforschend Aug am Nutzen zu ergötzen.
XXXII.
Dann hier, wo Gotthards Haupt die Wolken übersteiget,
Und der erhabnem Welt die Sonne näher scheint,
Hat, was die Erde sonst an Seltenheit gezeuget,
Die spielende Natur in wenig Lands vereint:
Wahr ists, daß Lybien uns noch mehr neues giebet,
Und jeden Tag sein Sand ein frisches Unthier sieht:
Allein der Himmel hat dieß Land noch mehr geliebet,
Wo nichts, was nöthig, fehlt, und nur was nutzet, blüht:
Der Berge wachsend Eis, der Felsen steile Wände,
Sind selbst zum Nutzen da, und tränken das Gelände.
177
Die Alpen (1729)
IV
[...] Das Schicksal hat euch hier kein Tempe zugesprochen,
Die Wolken, die ihr trinkt, sind schwer von Reif und Strahl;
Der lange Winter kürzt des Frühlings späte Wochen,
Und ein verewigt Eis umringt das kühle Thal;
Doch eurer Sitten Werth hat alles das verbessert, [...]
VI.
Zwar die Natur bedeckt dein hartes Land mit Steinen,
Allein dein Pflug geht durch, und deine Saat errinnt;
Sie warf die Alpen auf, dich von der Welt zu zäunen,
Weil sich die Menschen selbst die größten Plagen sind; [...]
Dann, wo die Freyheit herrscht, wird alle Mühe minder,
Die Felsen selbst beblühmt, und Boreas gelinder.
XXXI.
Bald aber schließt ein Kreis um einen muntern Alten,
Der die Natur erforscht, und ihre Schönheit kennt;
Der Kräuter Wunder-Kraft und ändernde Gestalten
Hat längst sein Witz durchsucht, und jedes Moos benennt;
Er wirft den scharfen Blick in unterird’sche Grüfte,
Die Erde deckt vor ihm umsonst ihr falbes Gold,
Er dringet durch die Luft, und sieht die Schwefel-Düfte,
In deren feuchter Schoos gefangner Donner rollt:
Er kennt sein Vaterland, und weiß an dessen Schätzen
Sein immerforschend Aug am Nutzen zu ergötzen.
XXXII.
Dann hier, wo Gotthards Haupt die Wolken übersteiget,
Und der erhabnem Welt die Sonne näher scheint,
Hat, was die Erde sonst an Seltenheit gezeuget,
Die spielende Natur in wenig Lands vereint:
Wahr ists, daß Lybien uns noch mehr neues giebet,
Und jeden Tag sein Sand ein frisches Unthier sieht:
Allein der Himmel hat dieß Land noch mehr geliebet,
Wo nichts, was nöthig, fehlt, und nur was nutzet, blüht:
Der Berge wachsend Eis, der Felsen steile Wände,
Sind selbst zum Nutzen da, und tränken das Gelände.
177