43. Carl Gustav Carus
Briefe über Landschaftsmalerei (1815-1835)
3. Brief, 1. Beilage
Von dem Entsprechen zwischen Gemütsstimmungen und Naturzuständen
[...] Welches sind nun aber die besondem in den mannigfaltigen Verwandlungen der
landschaftlichen Natur ausgesprochenen Stimmungen? - Wenn wir erwägen, daß
alle diese Verwandlungen nichts anderes sind als Formen des Naturlebens, so kön-
nen auch die verschiedenen in denselben ausgesprochenen Stimmungen nichts an-
deres als Lebenszustände, Stadien des Naturlebens, bezeichnen. Nun ist aber das
Leben selbst in seinem Wesen unendlich, und nur seine Formen sind stetiger Verän-
derung unterworfen, im steten Hervor- und Zurücktreten begriffen, so daß wir da-
durch in jeder individuellen Lebensform auf vier Stadien hingewiesen werden, wel-
che als Entwicklung und vollendete Darstellung, Verwelkung und völlige Zerstörung
sich unterscheiden lassen. Mehrfache Zustände aber entstehen, indem diese vier
ursprünglichen sich untereinander verbinden, indem die Entwicklung selbst krank-
haft gehemmt wird, die vollendete Kraft im Kampfe mit der eindringenden Zerstö-
rung erscheint, oder aus der Zerstörung wieder eine neue Entwicklung hervortritt.
Beispiele hierzu lassen nun im Naturleben, inwiefern es Gegenstand landschaftli-
cher Darstellung werden kann, in Menge sich nachweisen. Die nächsten bieten die
stets wechselnden Jahres- und Tageszeiten dar, wo Morgen, Mittag, Abend und Nacht,
Frühling, Sommer, Herbst und Winter jene Stadien ganz bestimmt zeigen, und auch
die erwähnten Kombinationen nicht fehlen, indem ein Trübewerden des Morgens,
ein Reif auf Blütenbäumen, ein Vertrocknen der Pflanzen in der Sonnenhitze, ein
Gewitter am Mittage, das Auf gehen des Mondes in der Nacht, das Erstehen neuer
Knospen aus dem erstorbenen Stamme, wie so unzähliges andere, hierhergehören.
Nun aber auch im Gemüte selbst, welche Reihe von Stimmungen wird hier vorkom-
men können? - Offenbar auch nur, wie im ewigen Naturleben, Erheben und Versin-
ken einzelner Lebensformen, so im ewigen Leben der Seele, Erstehen und Vergehen
einzelner Äußerungen des Gemütslebens.
Das Gefühl des Aufstrebens, der Ermutigung, der Entwicklung, das Gefühl wahrer
innerer Klarheit und Ruhe, das Gefühl des Hinwelkens, der Schwermut und die
Fühllosigkeit Apathie sind auch hier die vier Stadien, auf welche, als auf die ur-
sprünglichen Grundtöne, das Gemütsleben mit all seiner unendlichen Mannigfaltig-
keit sich zurückführen läßt [...].
Wie nun aber die angeschlagene Saite eine zweite, ihr gleichnamige, wenn auch
höhere oder tiefere, mit in Schwingungen versetzt, so müssen auch in Natur und
Gemüt die verwandten Regungen sich hervorrufen, und auch hierin erscheint wie-
der die Individualität des Menschen als untrennbarer Teil eines hohem Ganzen. Das
unbefangene Gemüt wird daher vom angeregten, aufstrebenden Naturleben, reinem
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Briefe über Landschaftsmalerei (1815-1835)
3. Brief, 1. Beilage
Von dem Entsprechen zwischen Gemütsstimmungen und Naturzuständen
[...] Welches sind nun aber die besondem in den mannigfaltigen Verwandlungen der
landschaftlichen Natur ausgesprochenen Stimmungen? - Wenn wir erwägen, daß
alle diese Verwandlungen nichts anderes sind als Formen des Naturlebens, so kön-
nen auch die verschiedenen in denselben ausgesprochenen Stimmungen nichts an-
deres als Lebenszustände, Stadien des Naturlebens, bezeichnen. Nun ist aber das
Leben selbst in seinem Wesen unendlich, und nur seine Formen sind stetiger Verän-
derung unterworfen, im steten Hervor- und Zurücktreten begriffen, so daß wir da-
durch in jeder individuellen Lebensform auf vier Stadien hingewiesen werden, wel-
che als Entwicklung und vollendete Darstellung, Verwelkung und völlige Zerstörung
sich unterscheiden lassen. Mehrfache Zustände aber entstehen, indem diese vier
ursprünglichen sich untereinander verbinden, indem die Entwicklung selbst krank-
haft gehemmt wird, die vollendete Kraft im Kampfe mit der eindringenden Zerstö-
rung erscheint, oder aus der Zerstörung wieder eine neue Entwicklung hervortritt.
Beispiele hierzu lassen nun im Naturleben, inwiefern es Gegenstand landschaftli-
cher Darstellung werden kann, in Menge sich nachweisen. Die nächsten bieten die
stets wechselnden Jahres- und Tageszeiten dar, wo Morgen, Mittag, Abend und Nacht,
Frühling, Sommer, Herbst und Winter jene Stadien ganz bestimmt zeigen, und auch
die erwähnten Kombinationen nicht fehlen, indem ein Trübewerden des Morgens,
ein Reif auf Blütenbäumen, ein Vertrocknen der Pflanzen in der Sonnenhitze, ein
Gewitter am Mittage, das Auf gehen des Mondes in der Nacht, das Erstehen neuer
Knospen aus dem erstorbenen Stamme, wie so unzähliges andere, hierhergehören.
Nun aber auch im Gemüte selbst, welche Reihe von Stimmungen wird hier vorkom-
men können? - Offenbar auch nur, wie im ewigen Naturleben, Erheben und Versin-
ken einzelner Lebensformen, so im ewigen Leben der Seele, Erstehen und Vergehen
einzelner Äußerungen des Gemütslebens.
Das Gefühl des Aufstrebens, der Ermutigung, der Entwicklung, das Gefühl wahrer
innerer Klarheit und Ruhe, das Gefühl des Hinwelkens, der Schwermut und die
Fühllosigkeit Apathie sind auch hier die vier Stadien, auf welche, als auf die ur-
sprünglichen Grundtöne, das Gemütsleben mit all seiner unendlichen Mannigfaltig-
keit sich zurückführen läßt [...].
Wie nun aber die angeschlagene Saite eine zweite, ihr gleichnamige, wenn auch
höhere oder tiefere, mit in Schwingungen versetzt, so müssen auch in Natur und
Gemüt die verwandten Regungen sich hervorrufen, und auch hierin erscheint wie-
der die Individualität des Menschen als untrennbarer Teil eines hohem Ganzen. Das
unbefangene Gemüt wird daher vom angeregten, aufstrebenden Naturleben, reinem
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