Kommentar
Als Ergänzung zu unseren Bemerkungen zu Vergil sei ein kurzer Blick auf die sogenannte
Rota Virgilii geworfen.1 Zwar springen wir damit für einen Moment aus der chronologi-
schen Abfolge unserer Texte, doch kann die Rota, die wohl im 4. Jahrhundert nach Christi
Geburt entwickelt wurde und ihre abschließende systematische Form in der Pariser Scho-
lastik des 13. Jahrhunderts fand, uns zeigen, daß die mittelalterliche Dichtungslehre im
Rückgriff vor allem auf Horaz’ Poetik, die Rhetoriken Ciceros und Quintilians und Vitruvs
Architekturtheorie eine eigene Stillehre ausbildete, die ihre Konsequenzen vor allem für
die Gattungshierarchie aller klassischen Kunsttheorie gehabt hat Bezeichnenderweise beruft
sich die Rota in ihrer Systematik auf die Schriften Vergils. Sie scheidet drei Stile, den
niederen, den mittleren, den hohen (humilis, mediocris, gravis), und ordnet ihnen, gemäß
dem Decorum, sozial und kulturell differenziertes Personal, Tiere, Gerät, Orte und Bäume
zu. Vergils Schriften Bucolica, Georgica und Aeneis stehen Pate dafür. Aus den Eklogen
wissen wir bereits, was dem Hirtenstand gebührt: ein sorgloses Leben, das sich allein um
die Schafherde auf der Weide zu kümmern hat, im Schatten der Buche der Ruhe pflegt
oder die Flöte spielt. Damit sieht die Dichtungslehre den niederen Stil charakterisiert. Im
mittleren Stil geht der Bauernstand der Arbeit nach, im Gegensatz zum Hirtenstand kulti-
viert er das Land, ist darum höher einzuschätzen. Doch der höchste Rang im hohen Stil
gebührt dem Krieger, der von der Stadt aus die Geschicke des Landes lenkt; die klassi-
schen Helden in Würde und Ruhm sind aufgerufen. Es wird verständlich, daß diese rheto-
rische Differenzierung in der Folge für die Niedrigstufung der Landschaft und den führen-
den Rang der Historienmalerei verantwortlich war - und sei es unterschwellig, denn die
eigentliche Ausführung der Gattungshierarchie der bildenden Kunst ist ein überraschen-
des Spätprodukt der französischen Akademie des 17. Jahrhunderts (s. u. S. 150). Das sollte
uns aber auch darauf aufmerksam machen, daß bei allem Bewußtsein für das Passende
und Hingehörige eine gänzlich orthodoxe Hierarchie der Gattungen sehr lange nicht exi-
stiert. Schließlich handelt es sich bei den drei Werken des Vergil jeweils um bewußte
Stilwahl mit eigenem Recht und eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. Die akademische
Orthodoxie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts markiert eher eine gewisse Erstar-
rung des an sich flexiblen Systems.
Anmerkungen
1 Kurze Bemerkung mit Lit. bei Götz Pochat, Figur und Landschaft. Eine historische Interpretation der
Landschaftsmalerei von der Antike bis zur Renaissance, Berlin/New York 1973, S. 116-118. Johannes
von Garlandia war ein in Paris lebender Engländer, der nicht nur die drei poetischen Stile, sondern auch
vier moderne Prosastile scheidet. Für die Kunstgeschichte ist er auch durch seine »Integumenta Ovidii«,
eine Moralisierung des Ovid mit ausgeprägter Allegorisierung, wichtig, s. Emst Robert Cuitius, Europäi-
sche Literatur und lateinisches Mittelalter, Bem/München71969 (zuerst Bem 1948),S. 130,161,211f.
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Als Ergänzung zu unseren Bemerkungen zu Vergil sei ein kurzer Blick auf die sogenannte
Rota Virgilii geworfen.1 Zwar springen wir damit für einen Moment aus der chronologi-
schen Abfolge unserer Texte, doch kann die Rota, die wohl im 4. Jahrhundert nach Christi
Geburt entwickelt wurde und ihre abschließende systematische Form in der Pariser Scho-
lastik des 13. Jahrhunderts fand, uns zeigen, daß die mittelalterliche Dichtungslehre im
Rückgriff vor allem auf Horaz’ Poetik, die Rhetoriken Ciceros und Quintilians und Vitruvs
Architekturtheorie eine eigene Stillehre ausbildete, die ihre Konsequenzen vor allem für
die Gattungshierarchie aller klassischen Kunsttheorie gehabt hat Bezeichnenderweise beruft
sich die Rota in ihrer Systematik auf die Schriften Vergils. Sie scheidet drei Stile, den
niederen, den mittleren, den hohen (humilis, mediocris, gravis), und ordnet ihnen, gemäß
dem Decorum, sozial und kulturell differenziertes Personal, Tiere, Gerät, Orte und Bäume
zu. Vergils Schriften Bucolica, Georgica und Aeneis stehen Pate dafür. Aus den Eklogen
wissen wir bereits, was dem Hirtenstand gebührt: ein sorgloses Leben, das sich allein um
die Schafherde auf der Weide zu kümmern hat, im Schatten der Buche der Ruhe pflegt
oder die Flöte spielt. Damit sieht die Dichtungslehre den niederen Stil charakterisiert. Im
mittleren Stil geht der Bauernstand der Arbeit nach, im Gegensatz zum Hirtenstand kulti-
viert er das Land, ist darum höher einzuschätzen. Doch der höchste Rang im hohen Stil
gebührt dem Krieger, der von der Stadt aus die Geschicke des Landes lenkt; die klassi-
schen Helden in Würde und Ruhm sind aufgerufen. Es wird verständlich, daß diese rheto-
rische Differenzierung in der Folge für die Niedrigstufung der Landschaft und den führen-
den Rang der Historienmalerei verantwortlich war - und sei es unterschwellig, denn die
eigentliche Ausführung der Gattungshierarchie der bildenden Kunst ist ein überraschen-
des Spätprodukt der französischen Akademie des 17. Jahrhunderts (s. u. S. 150). Das sollte
uns aber auch darauf aufmerksam machen, daß bei allem Bewußtsein für das Passende
und Hingehörige eine gänzlich orthodoxe Hierarchie der Gattungen sehr lange nicht exi-
stiert. Schließlich handelt es sich bei den drei Werken des Vergil jeweils um bewußte
Stilwahl mit eigenem Recht und eigenen Entfaltungsmöglichkeiten. Die akademische
Orthodoxie des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts markiert eher eine gewisse Erstar-
rung des an sich flexiblen Systems.
Anmerkungen
1 Kurze Bemerkung mit Lit. bei Götz Pochat, Figur und Landschaft. Eine historische Interpretation der
Landschaftsmalerei von der Antike bis zur Renaissance, Berlin/New York 1973, S. 116-118. Johannes
von Garlandia war ein in Paris lebender Engländer, der nicht nur die drei poetischen Stile, sondern auch
vier moderne Prosastile scheidet. Für die Kunstgeschichte ist er auch durch seine »Integumenta Ovidii«,
eine Moralisierung des Ovid mit ausgeprägter Allegorisierung, wichtig, s. Emst Robert Cuitius, Europäi-
sche Literatur und lateinisches Mittelalter, Bem/München71969 (zuerst Bem 1948),S. 130,161,211f.
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