EIN FRÜHMITTELALTERLICHES BEINKÄSTCHEN
IM ESKORIAL UND DIE LANGOBARDISCHE ELFENBEINKUNST
(Hierzu die Abb. S. 82—99)
TAas Land südlich der Pyrenäen besitzt in
seinen Kirchen und Sakristeien so man-
chen verborgenen Schatz an Kunstgeräten,
die glücklich die Stürme vergangener Jahr-
hunderte überstanden haben und es nur einem
gütigenZufall verdanken, wenn sie ansTages-
licht gezogen und der Kunstforschung zu-
gänglich gemacht werden. Wir erinnern an
die altchristliche Elfenbeinpyxis mit dem
Wunder der Brotvermehrung auf der re-
liefierten Wandung in der Peterskirche zu
Estella (Prov. Pampluna), die um 1910 aus
der Kirche verschwand, dannin der Sammlung
Morgan in Neuyork auftauchte und jetzt in
den Besitz des South-Kensington-Museums
gelangte1), an die erst 1911 in die Öffentlich-
keit gezogene spanisch-arabische Runddose
der Kathedrale von Zamora aus der Mitte
des 10. Jahrhunderts, die mit ihrem tiefaus-
geschnittenen, dichtgedrängten Tier- und
Laubornament den erstklassigen Elfenbein-
schnitzereien des Kalifats beigezählt werden
muß und bis dahin gänzlich unbekannt war,
wir müssen hinweisen auf die heilige Lade
im Dom von Oviedo, jenen silberumkleideten
Reliquienschrein, der nach der unglücklichen
Schlacht bei Xeres de la Frontera (711) und
dem Sturz des Westgotenreiches aus Toledo
in die asturischen Berge gerettet wurde und
zuletzt in der an den Oviedaner Dom ange-
bauten Michaelskapelle eine Ruhestätte fand.
Nach der Schilderungder letzten Besichtigung
unter Alonso III. (1072 —1109) muß diese
spanische »Bundeslade« mehrere Elfenbein-
gefäße der römischen oder westgotischen Zeit
enthalten und ein Korpus der altchristlichen
Elfenbeinpyxiden wird nicht zusammenge-
stellt, bevor nicht die arca santa auf ihren
Inhalt untersucht ist. Was eine Durchstöbe-
rung und genaue Inventarisierung der Kir-
chen, besonders im Norden der Halbinsel zu-
tage fördern würde, kann nur geahnt werden
und solange nicht illustrierte, kritische Kata-
loge des Archäologischen Museums in Madrid
und vieler anderer Provinzialmuseen zusam-
mengestellt sind, bleiben die Ausführungen
‘JSt.Poglayen-Neuwall hatsie jüngst beschrieben
in Monatshefte für Kunstwissenschaft XIII (1920),
S. 98 ff.
zu einer Geschichte des spanischen Kunst-
gewerbes, wie sie Michel in seiner Histoire
de l’art, Dieulafoy, Williams, K. Justi bieten,
nur Stückwerk.
Zu den vergessenen oder von der spanischen
Kunstkritik gänzlich abseits gestellten Denk-
mälern einer sehr frühen Epoche muß auch
ein Kästchen gezählt werden, das nur einmal,
gelegentlich der zu Madrid 1892 zur vierten
Zentenarfeier der Entdeckung Amerikas ge-
haltenen Ausstellung, seinen ruhigen Stand-
ort im Eskorial verließ und unter einer langen
Reihe prunkvoller französischer Elfenbein-
arbeiten des 14. Jahrhunderts prangte und
unter den Juwelen der Ausstellung im Werke
»Las Joyas de la exposiciön histörico-Euro-
pea de Madrid 1892« wenigstens mit dem
Bilde des Deckels und einer Langseite eine
Aufnahme fand. Wir müssen gestehen, im Es-
korial selber trotz eines zweimaligen, jedoch
flüchtigen Besuches das Beinkästchen mit den
Passionsszenen nicht entdeckt zu haben. Wei-
tere Nachforschungen waren unmöglich. Und
so können nur die drei Abbildungen der bei-
den Langseiten und des Deckels aus dem
Tafelwerke »La Joyas« und einer Photo-
graphie von Lacoste (Madrid) wiedergegeben
werden. Trotz der ästhetisch wenig anziehen-
den Schnitzerei reizte und drängte gerade die
Primitivität der Arbeit, der gleichwohl meh-
rere ganz charakteristische Merkmale an-
hängen, zum Suchen nach jenem völkischen
Kunstkreise, dem eine solche Kindesleistung
»in die Schuhe geschoben werden« kann.
Eine lange Reihe von neuerschienenen erst-
klassigen Publikationen über Miniaturen des
frühen Mittelalters ist ein vollgültiger Nach-
weis, daß unsere Zeit unbefangener an solche
Erstlingsarbeiten herantritt und noch andere
Forderungen kennt als die Gesetze der Ana-
tomie, der Modellierung und Raumverwirk-
lichung und Gewandbehandlung. Auch am
unbeholfenen Schnitzwerk gibt es ein Ringen
nach Ausdruck und Bewegung, ein Streben
nach Monumentalität; zugleich erscheint es
von höchstem Interesse, den Wanderungen
der Zierformen und der ikonographischen
Eigenheiten zu folgen, wie auch Gründe der
Pietät dazu einladen, den frühen Regungen
Die christliche Kunst. XX. 7, 8. April/Mai, 1934
IM ESKORIAL UND DIE LANGOBARDISCHE ELFENBEINKUNST
(Hierzu die Abb. S. 82—99)
TAas Land südlich der Pyrenäen besitzt in
seinen Kirchen und Sakristeien so man-
chen verborgenen Schatz an Kunstgeräten,
die glücklich die Stürme vergangener Jahr-
hunderte überstanden haben und es nur einem
gütigenZufall verdanken, wenn sie ansTages-
licht gezogen und der Kunstforschung zu-
gänglich gemacht werden. Wir erinnern an
die altchristliche Elfenbeinpyxis mit dem
Wunder der Brotvermehrung auf der re-
liefierten Wandung in der Peterskirche zu
Estella (Prov. Pampluna), die um 1910 aus
der Kirche verschwand, dannin der Sammlung
Morgan in Neuyork auftauchte und jetzt in
den Besitz des South-Kensington-Museums
gelangte1), an die erst 1911 in die Öffentlich-
keit gezogene spanisch-arabische Runddose
der Kathedrale von Zamora aus der Mitte
des 10. Jahrhunderts, die mit ihrem tiefaus-
geschnittenen, dichtgedrängten Tier- und
Laubornament den erstklassigen Elfenbein-
schnitzereien des Kalifats beigezählt werden
muß und bis dahin gänzlich unbekannt war,
wir müssen hinweisen auf die heilige Lade
im Dom von Oviedo, jenen silberumkleideten
Reliquienschrein, der nach der unglücklichen
Schlacht bei Xeres de la Frontera (711) und
dem Sturz des Westgotenreiches aus Toledo
in die asturischen Berge gerettet wurde und
zuletzt in der an den Oviedaner Dom ange-
bauten Michaelskapelle eine Ruhestätte fand.
Nach der Schilderungder letzten Besichtigung
unter Alonso III. (1072 —1109) muß diese
spanische »Bundeslade« mehrere Elfenbein-
gefäße der römischen oder westgotischen Zeit
enthalten und ein Korpus der altchristlichen
Elfenbeinpyxiden wird nicht zusammenge-
stellt, bevor nicht die arca santa auf ihren
Inhalt untersucht ist. Was eine Durchstöbe-
rung und genaue Inventarisierung der Kir-
chen, besonders im Norden der Halbinsel zu-
tage fördern würde, kann nur geahnt werden
und solange nicht illustrierte, kritische Kata-
loge des Archäologischen Museums in Madrid
und vieler anderer Provinzialmuseen zusam-
mengestellt sind, bleiben die Ausführungen
‘JSt.Poglayen-Neuwall hatsie jüngst beschrieben
in Monatshefte für Kunstwissenschaft XIII (1920),
S. 98 ff.
zu einer Geschichte des spanischen Kunst-
gewerbes, wie sie Michel in seiner Histoire
de l’art, Dieulafoy, Williams, K. Justi bieten,
nur Stückwerk.
Zu den vergessenen oder von der spanischen
Kunstkritik gänzlich abseits gestellten Denk-
mälern einer sehr frühen Epoche muß auch
ein Kästchen gezählt werden, das nur einmal,
gelegentlich der zu Madrid 1892 zur vierten
Zentenarfeier der Entdeckung Amerikas ge-
haltenen Ausstellung, seinen ruhigen Stand-
ort im Eskorial verließ und unter einer langen
Reihe prunkvoller französischer Elfenbein-
arbeiten des 14. Jahrhunderts prangte und
unter den Juwelen der Ausstellung im Werke
»Las Joyas de la exposiciön histörico-Euro-
pea de Madrid 1892« wenigstens mit dem
Bilde des Deckels und einer Langseite eine
Aufnahme fand. Wir müssen gestehen, im Es-
korial selber trotz eines zweimaligen, jedoch
flüchtigen Besuches das Beinkästchen mit den
Passionsszenen nicht entdeckt zu haben. Wei-
tere Nachforschungen waren unmöglich. Und
so können nur die drei Abbildungen der bei-
den Langseiten und des Deckels aus dem
Tafelwerke »La Joyas« und einer Photo-
graphie von Lacoste (Madrid) wiedergegeben
werden. Trotz der ästhetisch wenig anziehen-
den Schnitzerei reizte und drängte gerade die
Primitivität der Arbeit, der gleichwohl meh-
rere ganz charakteristische Merkmale an-
hängen, zum Suchen nach jenem völkischen
Kunstkreise, dem eine solche Kindesleistung
»in die Schuhe geschoben werden« kann.
Eine lange Reihe von neuerschienenen erst-
klassigen Publikationen über Miniaturen des
frühen Mittelalters ist ein vollgültiger Nach-
weis, daß unsere Zeit unbefangener an solche
Erstlingsarbeiten herantritt und noch andere
Forderungen kennt als die Gesetze der Ana-
tomie, der Modellierung und Raumverwirk-
lichung und Gewandbehandlung. Auch am
unbeholfenen Schnitzwerk gibt es ein Ringen
nach Ausdruck und Bewegung, ein Streben
nach Monumentalität; zugleich erscheint es
von höchstem Interesse, den Wanderungen
der Zierformen und der ikonographischen
Eigenheiten zu folgen, wie auch Gründe der
Pietät dazu einladen, den frühen Regungen
Die christliche Kunst. XX. 7, 8. April/Mai, 1934