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Becksmann, Rüdiger; Korn, Ulf-Dietrich
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Lüneburg und den Heideklöstern — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 7,2: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 1992

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https://doi.org/10.11588/diglit.52868#0168

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GERICHTSLAUBE

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Geschichte des Baues: Durch mehrere Belege in den ältesten Kämmereirechnungen ist die Errichtung eines neuen
Ratssaales, der seit dem späten 17. Jh. allgemein als Gerichtslaube bezeichnet wird10, eindeutig für das frühe 14. Jh.
gesichert: 1330 erfolgten Zahlungen pro gradibus et muro circa consistorium sowie in novo consistorio adpavimentum, womit
der zu Teilen noch erhaltene Fußbodenbelag gemeint sein dürfte11, zwei weitere Zahlungen im Jahre 1331 pro tegendo
consistorio sowie ad duo underslach in nova domo12. Wenn die Ratsherren bereits im Herbst jenes Jahres in nova domo
frühstückten, »nachdem die Domherren von Verden einen Rehbock geschickt hatten«, so dürfen wir wohl zu Recht
davon ausgehen, daß der neue Ratssaal zu diesem Zeitpunkt bereits fertiggestellt war, zumal die Bezeichnungen
novum consistorium und nova domus in den Quellen offensichtlich synonym verwandt worden sind13. Obgleich in der
baugeschichtlichen Literatur seit 1906 entsprechende Daten für die Gerichtslaube genannt werden14, blieb die Beurtei-
lung des Baubefundes angesichts der großenteils aus jüngerer Zeit stammenden Ausstattung, vor allem im Hinblick
auf die Fensteröffnungen, unsicher. Hinzu kamen Schwierigkeiten bei der zeitlichen Einordnung später vorgenomme-
ner baulicher Veränderungen15.
Zum ursprünglichen Bestand des ganz aus Backstein errichteten, über einem gewölbten Erdgeschoß gelegenen, etwa
21 m langen und 9 m breiten, im Scheitel etwa 5,50 m, an den Seitenwänden jedoch nur 3,75 m hohen Ratssaales
(Fig. 30, Taf. XIa, b, XIII), gehören nicht nur die aus zwei zweibahnigen und einem fünfbahnigen Fenster bestehende
Fenstergruppe der südlichen Giebelwand, sondern auch die stichbogigen Fensteröffnungen der als Schauseite ausgebil-
deten Ostwand. Das aus Sandstein gearbeitete, außen Formen verschleifend mit Rundstäben, Basen und Kapitellen
besetzte Maßwerk der südlichen Fenstergruppe ist allerdings 1853 vollständig, in Einzelformen jedoch weitgehend
zuverlässig erneuert worden16. Obwohl es mit seinen streng geometrischen Bildungen — Vierpässen in Kreisrosetten
oder auf der Spitze stehenden Bogenquadraten über genasten Lanzetten sowie einer mit drei Bogendreiecken gefüllten
großen Rose - charakteristisch für die Zeit um 1330 ist, hat es H. Appuhn — offensichtlich getäuscht durch die
in der Tat verblüffende Kongruenz von Bildprogramm und architektonischem Rahmen — einem vermeintlichen Umbau
der Zeit um 1410, der Entstehungszeit der Farbverglasung, zugewiesen17. Übersehen wurde bisher auch, daß die
beiden zwischen den drei Fenstern in der Höhe ihrer Couronnements angebrachten polygonalen Laubwerkkonsolen
und Architekturbaldachine auf Grund ihrer Einzelformen ebenfalls aus der Erbauungszeit stammen. Dies könnte
auch für die früher hier befindlichen, etwa 1 m hohen Standfiguren — möglicherweise einen Hl. Johannes Bapt.

10 Die an sich unsinnige Bezeichnung entstand vermutlich durch die
fragwürdige Verquickung der Funktion des Raumes als Gericht mit der
sogenannten Laube, einem ehemaligen Vorbau, durch den der Zugang
zu dem im Obergeschoß gelegenen Ratssaal führte, hat also nichts mit
den romantischen Erklärungsversuchen zu tun, die in dem Begriff
»Laube« eine Erinnerung an die in der Frühzeit unter Eichenhainen
abgehaltenen Gerichtsversammlungen sehen wollten. Vgl. hierzu etwa
W. Albers, Beschreibung der Merkwürdigkeiten des Rathauses zu Lüne-
burg, Lüneburg 1843, S. 6.
11 Bereits W. Reinecke (s. Anm. 3), 1909, S. 172, i8of., hatte diese
Quelle entsprechend interpretiert, auch wenn seine Übersetzung von
pavimentum mit »Estrich« — zutreffend allenfalls als pars pro toto — zu
Mißverständnissen Anlaß gegeben hat.
12 Vgl. hierzu W. Reinecke (s. Anm. 3), 1928, S. 318f. - Beide Zah-
lungen beziehen sich auf die Bedachung des Ratssaales. Mit underslach
sind übrigens jene Unterzugs- oder Spannbalken gemeint, die noch um
1870 auf einer Photographie von R. Peters sowie auf einem 1880 datier-
ten Holzstich von Johann Gehrts zu sehen, bei der umfassenden Instand-
setzung der Gerichtslaube in den Jahren 1879—1883 jedoch entfernt wor-
den sind. Vgl. hierzu G. Dombrowski, Die Baugeschichte der Gerichts-
laube des Lüneburger Rathauses im 19. und 20. Jh., Ms. der Prüfungs-
arbeit für das Gewerbelehramt im Fach Baugeschichte der Technischen
Universität Hannover 1979, S. 43 f., 81, Abb. 38f., und H. Appuhn (s.
Anm. 7), 1990, S. 36, 45. Ob auch die bei W. Reinecke (s. Anm. 3),
1909, S. 174, für 1330 vermerkte Ausgabe von 321!. für zwei Fenster
auf den neuen Ratssaal bezogen werden darf, bleibt ungewiß.
13 Quellennachweise hierzu wiederum bei W. Reinecke (s. Anm. 3),
1928, S. 320. Für das Jahr 1335 sind weitere Essen der Ratsherren im

Ratssaal überliefert (ebenda, S. 322f.), wobei die Ortsbezeichnungen so-
wohl in consistorio als auch in nova domo lauten.
14 F. Krüger/W. Reinecke, Kdm. Lüneburg 1906, S. 199, nennen »um
1330« als Datum für den Ratssaal, bei G. Dehio, 1977, S. 610, heißt
es noch präziser: »13 31 in Benutzung genommen «.
15 Mancherlei Klärungen gegenüber der noch immer als grundlegend
geltenden Befundbeschreibung von F. Krüger/W. Reinecke, Kdm. Lü-
neburg, 1906, S. 226-235, aber auch gegenüber der Beurteilung durch
U. Boeck (s. Anm. 2), 1969, S. 48 f., hat die gründliche Aufarbeitung
der im Laufe des 19. Jh. durchgeführten Wiederherstellungsmaßnahmen
durch G. Dombrowski (s. Anm. 12) erbracht, worauf im einzelnen noch
hinzuweisen sein wird.
16 Die nach Anweisungen des Stadtbaumeisters H. Holste durchgeführte
stylgemäße Erneuerung des Maßwerks konnte G. Dombrowski (s.
Anm. 12), 1979, S. 48—58, genauestens dokumentieren. Die Frage, ob
der ursprüngliche Befund exakt kopiert oder frei nachgebildet worden
ist, konnte er jedoch nicht eindeutig beantworten, da sowohl die 1843
von W. Albers veröffentlichte Zeichnung (Taf. XII) als auch diejenige
von H. Holste (Lüneburg, StA, B 1, 4, VI, Bl. 130) auch auf der Innen-
seite heute fehlende Säulenvorlagen mit Kapitellen zeigt.
17 Vgl. H. Appuhn (s. Anm. 7), 1990, S. 36. In der älteren Literatur
hatte nur H.W.H. Mithoff, 1877, S. 183, das Maßwerk auf Grund
seiner strengen Form eindeutig in das 14. Jh. verwiesen. Daß gerade
die Maßwerkkonfiguration des mittleren Fensters eine charakteristische
Erfindung der Zeit um 1330 darstellt, vermag eine entsprechende Bil-
dung in dem 1335 datierten Sommer-Refektorium des Zisterzienserklo-
sters Bebenhausen bei Tübingen (G. Binding, Maßwerk, Darmstadt
1989, S. 299f., Abb. 339) hinreichend zu belegen.
 
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