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Becksmann, Rüdiger; Korn, Ulf-Dietrich
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Lüneburg und den Heideklöstern — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 7,2: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 1992

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https://doi.org/10.11588/diglit.52868#0335

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222

WIENHAUSEN • KLOSTER

die differenzierter gesehenen, feiner gezeichneten Gewänder und Köpfe der ersten Gruppe sichtbar, die für eine
Lokalisierung der Werkstatt in Lüneburg sprechen57. Bei einem genauen Vergleich stellt sich freilich heraus, daß
nur die Scheiben der ersten Gruppe, etwa das Abendmahl Christi (Abb. 236, 244p, 251), an das künstlerische Niveau
der Isenhagener Staffel herankommen. Offenkundig sind jedoch die Übereinstimmungen in der Farbgebung. Hier
wie dort beherrscht der Farbklang Rot-Gelb-Grün die Komposition, werden unter Einbeziehung von hellem Purpurvio-
lett dieselben Farbverschränkungen gewählt. Diese Feststellung trifft auch auf einen um 1330 entstandenen, farbig
gefaßten Lüneburger Buchkasten (Textabb. 8 f.) zu, auf dessen Deckel in Flachrelief ein thronender Weltenrichter
in einer durch grünen Fiederrankengrund ausgezeichneten Mandorla zwischen auf Brillengläsern gemalten Evangeli-
stensymbolen erscheint58. In der Tat dürfte der auf immer den gleichen Farbverschränkungen beruhende Charakter
lichter, schwereloser Buntheit ein Spezifikum der Lüneburger Malerei der Zeit um 1330 sein. Noch ein weiteres,
im Zweiten Weltkrieg während der Restaurierung in Berlin verschollenes oder zerstörtes Werk der Tafelmalerei,
das für das Benediktinerinnenkloster Lüne geschaffene Antependium (Textabb. 15 f.), ist aufschlußreich für die stilge-
schichtliche Verankerung der beiden Wienhausener Zyklen, insbesondere des jüngeren Heiligenzyklus. Die offenbar
ein älteres, vermutlich gesticktes Antependium ersetzende Tafel mit einer Dreifaltigkeit im Zentrum, flankiert mit
Szenen von der Verkündigung an Maria bis zur Himmelfahrt Christi, zeigt trotz entsprechend retrospektiver Elemente
eine für das Jahrzehnt von 1340/50 charakteristische Versprödung und Erstarrung in der Zeichnung der Köpfe,
verbunden mit einer brüchigen, gelegentlich unmotiviert wirkenden Bewegung, wie sie ansatzweise auch in den
Apostelfiguren des Heiligenzyklus (Abb. 232, 242f., 252) zu beobachten ist59. Dies dürfte die aus baugeschichtlichen
Überlegungen gewonnene Ansetzung der Heiligenscheiben gegen 1340 bestätigen. Ganz isoliert bleibt einstweilen
der strengere, zugleich aber auch empfindsamere Stil der Salbung Christi (Abb. 234, 249f.), es sei denn, man versucht
in ihm eine Parallele zu ähnlichen Tendenzen in der Ausmalung des Nonnenchores zu sehen60. Das Werk einer
in der Glasmalerei dilettierenden Nonne dürfte diese Scheibe nicht sein61.
Gerade die Schwankungen im Stilbild, aber auch die formalen Zusammenhänge mit Werken anderer Kunstgattungen
weisen auf eine Werkstatt hin, die nicht auf Farbverglasungen spezialisiert gewesen sein dürfte. Dennoch war sie
in der Lage, nicht nur ganz verschiedenartige Vorlagen zu verarbeiten, sondern auch spezifischen Programmwünschen
gerecht zu werden. Eine solche Werkstatt in Lüneburg und nicht in Lübeck, Braunschweig oder Hildesheim zu
vermuten, scheint der Struktur dieser Stadt und der Rolle, die sie als Kunstzentrum im frühen 14. Jh. neben den
genannten Zentren gewonnen hatte, zu entsprechen.
WESTLICHER KREUZGANG FENSTER I—III Taf. XXVII b
Durch die 1864/65 angefertigten Aquarelle Welters (Taf. XXVIIb) ist die mutmaßliche Verglasung der Oculi der
Fenster I und III überliefert. Geht man von der erhaltenen Verglasung der südlichen Fenstergruppe aus, so dürften
die Oculi dieser Fenster jeweils zwölfteilige Blattrosetten gezeigt haben, deren weiße oder gelbe Blätter von wechselnd

I), Hannover 1954, Nr. 223, A. Stange, I, 1934, S. io2f., Abb. 97, und
zuletzt H. Appuhn, Isenhagen, 1966, S. 46h, 103, Farbtaf. S. 49, mit
überzeugendem Versuch, den ursprünglichen Choraltar unter Einbezie-
hung einer Gottvaterfigur als Schreinaltar mit gemalter Predella zu re-
konstruieren.
57 Diese Folgerungen bereits bei U.-D. Korn, Wienhausen, 1975, S. 41 f.
58 Grundlegend bearbeitet von H. Appuhn, Der Buchkasten aus dem
Rathaus zu Lüneburg, in: Lüneburger Blätter 14, 1963, S. 5-32, Taf. 1—
14. Vgl. auch ders., in: Kat. Ausst. Braunschweig 1985, II, Nr. 840.
59 Zu dem von Anfang an in seiner Datierung umstrittenen Lüner Ante-
pendium vgl. V. C. Habicht, 1919, S. 47-49 (mit genauer Farbbeschrei-
bung), und A. Stange, I, 1934, S. 100f., Abb. 98. Noch 1967 hielt A.
Stange, Kritisches Verzeichnis der deutschen Tafelbilder vor Dürer,
I, München 1967, S. 225, an einer Datierung »um 1300« fest. Bisher

hat nur R. Kroos, Bildstickereien, 1970, S. 75, versteckt in einer Anmer-
kung, diese unhaltbare Datierung mit überzeugenden Argumenten an-
gezweifelt und eine Datierung »nicht vor dem 2. Viertel des 14. Jh.«
vorgeschlagen.
60 Dies ist nicht auszuschließen, wenn man die Frauen in der entspre-
chenden Szene oder im Gastmahl des Herodes (W. Michler, 1968,
S. 35, 41) zum Vergleich heranzieht. Körperbau, Haltung und Gesichts-
bildung gehen zumindest auf dieselben Stilquellen zurück. Daß diese
in der Zeit um 1300 zu suchen sind, legen in der Scheibe auch die
aus der Farbverglasung der Allerheiligenkapelle (s. S. 21 if.) bekannten
doppelten Saumkonturen nahe.
61 Diese, von U.-D. Korn, Wienhausen, 1975, S. 40, vertretene Meinung
beruhte wohl vor allem auf dem durch die dilettantischen nachmittelal-
terlichen Ergänzungen beeinträchtigten Erscheinungsbild dieser Scheibe.
 
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