„Der „Deutsche Volksbote“" érfcheint zweimal
wöchentlich. Verlag und Leitung: Heidel-
berg, Bahnhofstraße 9. Telegramm-Adreſse :
î JVolksbote“" Heidelberg. Anzeigenpreis : Die
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+ Hadiſcher Volksbate. ~ Watt am Rhein. 2-
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bil so Plg. "Poſtrci gs e zr 196L§s
_ s3.
Heidelberg, Samſlag den 16. Oktober 1897.
Der dritte Parteitag bet i veutlch.
ſozialen Reformpartei
(Eig enberich t.)
(Nschhre verboten.)
(Fortsetzung vom erſt en Tag.)
In der ſreien Ausſprache kommt zuerſt Herr
Polſt e r (Crimmitschau) zu Wort, der sich gegen die
Entſchließung Raab stell. . Organisieren wir so, wie
Herr Raab es will, ſo nimmt uns das Ausland den
Wind aus den Segeln, weil es solche Beschränkungen
_ YHfür die Arbeitgeber nicht kennt. Heute ſind dem Ar
beitgeber durch die Unfall-, Kranken- und Invaliditäts-
geſeze so viel Laſten aufgelegt, daß mancher Arbeit-
geber sich so ſchlecht steht, wie mancher seiner Arbeiter
es sich nicht denken kann. Den philantropiſchen An-
sichten vom Arbeiterſchutz ſteht leider die blutige Wirk-
lichkeit gegenüber, die uns ein Weitergehen auf dieser
_ Bahn in absehbarer Zeit nicht gestattet. Durch die
Einsetzung von Arbeitsausſchüssen, wie sie Herr Raab
. wünſcht, wird dem Arbeitgeber das Heft in seinem
eigenen Betriebe aus der Hand genommen und das
dürfen wir nicht geſtatten, wenn wir nicht unter
_ dauernder Angeberei u. s. w. leiden wollen." (Beifall.)
Elin Antrag auf Beſchränkung der Redezeit auf
zehn Minnten für jeden Redner. Dagegegen ſprechen
die Abgg. Zimmermann, von Liebermann und die
Herren Heun (Frankfurt, Main), Jenzen (Cottbus),
Dr. Lindström und Kurzhals (Suhl), dafür die Herren
Specht, Raab und Iskraut. Antrag wird mit großer
Mehrheit angeuommen, dagegen ein Antrag Raab auf
: _ Schluß der Rednerliſte abgelehnt..
Ylſchen dor fs (Neustettin): Ich bin gegen die
Einschränkung der Beschäftigung jugendlicher Arbeiter
auf dem Lande. Das gute Verhältniß zwiſchen Arbeiter
und Arbeitgeber wird hauptsächlich durch die Alktien-
geſsellſchaften gestört, die zu teuer arbeiten und ihre
brutale Kapitalmacht gebrauchen, um Monopole zu
ſchaffen. Das geht klar daraus hervor, daß das Ka-
pital nicht aufs Land geht, um Landwirtschaft zu
treiben, denn dabei iſt nichts zu verdienen. (Sehr
.- richtig.) Im Uebrigen war mir die Debatte hoch-
_ intereſſant und vor allem danke ich den beiden Refe-
î renten für ihre geradezu glänzenden rhetoriſchen Leiſt-
ungen. Ich möchte aber dafür eintreten, daß die
Arbeitgeber mit ihren Arbeitern längere Kontrakte
î llſchließen; außerdem warne ich vor einer zu hohen
Bewertung der Arbeitslosenstatistik, denn in den Groß-
ff tädten gehört die Arbeitslosigkeit zum Sport gewisser
; Leut. bv. H immermann: Nicht erſt i im Jahre 89
hal ſich die Reformpartei mit der Arbeiterfrage be-
. W) ſondern ſchon im Jahre ts, Dr. Böckel
8. Jahrgang.
hat sich auch nicht in Dresden dem Erfurter Programm
gegenüber anders gestellt, ſondern er hat lediglich gegen
die Streik- H e t er geſprochen und für Arbeiter-Schieds-
gerichte an Stelle der Koalitionsfreiheit. Außerdem
hat die alte Reformpartei sich nicht einseitig für Erhaltung
des Mittelſtandes ausgesprochen, sondern iſt nur im
Interesse des Ganzen, der Gesamtheit dafür eingetreten,
denn mit dem Falle dieser Säule werden die Arbeiter
am schlimmsten betroffen. Die Entschließung Raabs
giebt nur der Sozialdemokratie Waffen in die Hand,
das sehen wir an den Gewerkſchaſten. Solche Grund-
sätze sind gegen das agrariſche Programm unserer Partei.
Wenn wir die Zuſtände im Auslande ansehen, so
müſſen wir uns vorzüglich darauf werfen, die na ti o-
nale Arbeit zu schützen und die Nationalwirtſchaft
betonen und wer iſt denn heute dagegen ? Nur die
Sozialdemokratie, darum keine neue Waffen in ihre
Hände legt; (Lebhafter Beifall.)
Abg. Lotz e: Die ganze wirtschaftliche Not der
Arbeiter. kommt von dem Liberalismus, von der Frei-
zügigkeit, die unhaltbare Zustände in Stadt und Land
geſchaffen hat. Unsere Bestrebungen haben darin zu
gipfeln, das Kapital stärker heranzuziehen und es zu
verpflichten, mehr für seine Arbeiter, die ihm Werte
schaffen, zu sorgen. Weule (Goslar): Ich bitte die
Entschließung Raab abzulehnen und unser Erfurter
Programm als lediglich bindend zu erklären. Ich |
ſtehe Herrn Raab nicht grundsätzlich gegenüber, aber ich
betrachte unsere wirtſchaftlichen Verhältnisse von einem
anderen Standpunkt aus, nicht von dem der Großſtadt,
wie Herr Raab. Die Koalition aller Arbeiter iſt
undenkbar, wer soll darunter verſtanden sein? Und
wie soll die Koalition der Landarbeiter durchgeführt |
werden ? Das Rütteln an der Freizügigkeit halte ich
für eine große Gefahr, die uns vielleicht erſt bei den
Wahlen klar wird. Jn unsrer Humanitätsduſelei ſind
wir so weit gegangen, daß wir uns den Strick selber
um den Hals gelegt. (Beifall.)
Abg. Js kr a ut: Wir brauchen an unserem Er-
furter Programm nichts zu ändern, denn es entſpricht
vollständig unserem Parteinamen, dem Wörtlein ,sozial".
Herrn Raab iſt das Herz mit dem Versſtande durch-
gegangen. Er hat das auch anerkannt am Schluße
ſeiner Ausführungen. Trotzdem besteht zwischen seiner
Auffassung und unserer kein Gegenſatz, nur eine Mei-
nungsverschiedenheit. Wenn auch grundsätzliche Prin-
zipien-Aenderungen in der Entschließung Raab vor-
handen sind, so bitte ich doch sie nicht ſtrikt abzulehnen,
ſondern sie zu verbessern auf Grund meiner Anträge.
Das Rechl auf Arbeit ist ein juriſtiſcher Unsinn, weil
wir es uns ſelbſt nicht garantiren können. (Sehr
richtig.) Das kann auch der Staat nicht, denn er |
kann niemanden zwingen an irgend einer Stelle zu
arbeiten. Wir kommen damit zu noch verrückteren
Ansichten, wie die des sozialdemokratischen Zukunfts-
taates. i
f Specht (Zell, Baden): Ich ſtehe vollständig auf
dem Gs der Entschließung Raab, nur stimme ich
nicht dem Angriff auf die Freizügigkeit zu. Die Ent-
schließung iſt nur eine Erläuterung zu den program-
matischen Erklärungen der Parteiforderungen. Bei der
Induſtrie-Arbeiterfrage kommt es weniger auf die
Höhe des Lohnes als auf eine genügende Sicherſtellung
desſelben an. Dazu kann eine nationale Wirtſchafts-
politik viel beitragen. Wir müſſen die Arbeiter auf
einen neuen Mittelſtand heben, dadurch ſchaffen wir
eine Seßhaftmachung der Arbeiter, größcre Kaufkraft
uſw. (Beifall.) – Dr. Bock (Peine). Wenn wir dem
Arbeiter das Recht auf Arbeit gewähren, so müssen
wir auch dasselbe dem Arbeitgeber zubilligee. Zur
Steuerung der Arbeitslosigkeit ſorge man doch dafür,
daß ausländiſche Arbeiter bei uns keine Beschäftigung
finden. (Beifall.) Wir können heute nicht zum Ab-
schluß kommen über die vorliegenden Arträge, da wir
noch viel zu wenig Klarheit vorfinden, deßhalb betrachte
ich die heutige Aussprache als eine willkommene
Klärung der Verhältnisse.
H eun (Frankfurt, Main) : Arbeitgeber sowohl
als Arbeiter, die heute hauptſächlich in den Herren
Polſter und Raab zu Worte kamen, haben beide Recht,
und wenn beide Recht haben, ſo muß es bei ihnen
doch auch etwas Gemeinsames geben. Ein Recht quf
Arbeit ist in einem Rechtsstaate einfach natürlich.
Mahr (Darmstadt): Ich stimme mit dem Abg.
Zimmermann vollſtändig überein und bin deßhalb auas
nationalen und wirtſchaftlichen Gründen gegen die Ent-
schließung Raab. Ich vecſtehe nicht, wie man einen
ganzen Tag auf die Arbeiterfrage verwenden konnte.
Der sog. Mittelſtand liegt doch wahrhaftig sehr schwer
danieder. Bei uns in Hessen kommt Hof nach Hoſ
unter den Hammer, die Arbeiter laufen statt zum
Handwerker in die Judenbazare und die Werkstätten
stehen deßhalb leer. Wollen wir unsere Wähler be-
halten, ſo müssen wir für den Mittelstand in erster
Linie eintreten. Das Koalitionsrecht können wir allen
Arbeitern nicht einräumen, denken wir an die Eiſen-
bahn! Ich bin also gegen eine allgemeine Entſchließung,
wie sie Herr Raab wünscht. (Großer Beifall.)
Da die Zeit sehr vorgesſchritten iſt, wird auf
Antrag die Arbeiterfrage vertagt, um am zweiten
Tage zuerſt die Besprechung der bevorstehenden Wahlen
vorzunehmen. Dafür sprechen u. a. die Herren Weber,
von Liebermann und Raab. Um 8 Uhr 15 Min.
wird die Sitzung geschlossen.
Zw eiter Ta g. Abg. von Liebermann eröffnet
die Sitzung um 91/2 Uhr. Zur Verlesung eines aus-
führlichen Berichtes aus Hesſen erhält der Leiter der
Feuilleton.
z Der Eine und der jlidere.
Erzählung von Hans Warring.
(Nachdruck verboten.)
Es entstand eine kleine Pauſe in der Unterhal-
tung zwiſchen Marianne und Rudolf, es ſchien, als
hätte Rudolf etwas in sich zu überwinden, endlich
fragte er: „Bisher hat Martin die Aufsicht über die
. Außenwirtschaft geführt ?"
„Ja ~— aber, ſiehſt du, ich bin froh, daß das
jetzt aufhört. Er iſt ein tüchtiger Witt, dagegen ist
nichts zu sagen, aber er geht mit den Leuten nicht
gut um und hat mir dadurch das Leben oft schwer
gemacht. Ich habe mich recht nach Ruh und Frieden
geſsehnt. Nun ſind ſie da. ~ du bringst sie. Er
nickte zerſtreut:
„Und — und — wie lebt denn der Martin mit
seiner jungen Frau ?"
Noch kann ich darüber nicht urteilen, sie sind ja
nicht viel länger als vier Wochen verheiratet. Hoffent-
_ lich wird's gut gehen."
„Und — wie gefällt dir die junge Frau ?"
"Ach, das iſt ein allerliebſtes Frauchen, wenn sie
einen anlacht, iſt es wie Sonnenschein. Erinnerſt du
dich an jenes Turnfeſt vor fünf oder sechs Jahren ?
Da hast du mil einem hübschen, ganz jungen Mädchen
bu zug f getanzt. Das war die Eva Büttler, weist
u das ?
„Ja," sagte Rudolf.
„Sie gefiel mir schon damals sehr, ~ ein ſo
unschuldiges Gesichtchen und so freundliche braune |
Augen! — Und jjettt iſt ſie mir so eine Art von
Ethziegtttochte geworden – wer hätte denn das
peda! if schwieg. :
„Hat der Martin an dich geschrieben und div
seine Verlobung angezeigl ?“
„Nein, er hat mir Karten geschickt.“
„Ganz fremd und förmlich, ~ ich hoffe, Ru-
dolf, ihr werdet wieder in ein gutes Einvernehmen
teuuet. wünſche das auch, Mutterchen ! “
„Du mußt natürlich bald zu ihnen hinübergehen
und ihnen guten Tag ſegen." ,
„Ja gewiß !"
Damit war das Gespräch beeudigt, ſie hatten das
Haus erreicht und traten in die Stube. Andreas be-
grüßte den Sohn wie man etwa einen jungen wohlge-
littenen Bekanntenbegrüßt,der zu einem kurzen Besuch ge-
kommen iſt. Er nickte ihm zu und reichte ihm die
gesunde linke Hand.
„Na ſchön, daß du gekommen biſt! – Set, dich
und erzähl’ was !'
„Es geht dir jetzt besser, Vater ?"
„Na es geht ſo – man gewöhnt sich an alles
— mir iſt d alte Großvaterftuhl jetzt der beste
Freund qe den Vater an den Tiſch heran, mein Sohn,
wir wollen frühſtücken, du wirst hungrig sein."
| zeigte.
„Ja, Mutter, ich denke, ich werde deiner Küche
alle Ehre anthun.“
„Ei, ei !"“ sagte Andrees, indem er sich den be-
setzten. Tisch anſah, „„du läßt ja heute was drauf gehen,
Mutter! Das iſt recht - ~ der Rudolf iſt ein seltener
Gaſft.“/
„Der Rudolf iſt kein Gaſt, er iſt der Sohn des
Hauſes und kehrt heute nach langen Jahren wieder
s fre Dach zurück. Deshalb feiern wir ? heute
ein Feſt.'
„So, so !" sagte Andrees. :
ſtudolf blickte zur Mutter hinüber, aber diese
lächelle und nickte ihm ermutigend zu.
„Du mußt Vaters Worte nicht auf die Gold-
wage "legen, mein Sohn,’ sagte Marianne später, als
sie ihm sein jenseits des Flures gelegenes Zimmer
„Siehſt du, er iſt nicht mehr das, was er
gewesen iſt. Die böse Krankheit hat ihn sehr ver-
ändert. Was er nicht vor Augen hat, vergißt er.
Manchmal denk' ich, das ist die ſchönſte Gnad’, die ihm hat
Gott fahren lassen können, denn so glücklich, so fried-
voll und ruhig wie jetz, ift er sein ganzes Leben nicht
geweſen. Jetzt hat er alles, . was ihn bedrückt hat,
vergeſſen, ~ jetzt kennt er weder Sorge noch Kummer,
noch Reue. Aber ich mein’, wie alles Schwere, ſo
hat er auch das Gute vergessen, sogar sein eigen Kind.
Du mußt Geduld mit ihm haben, wenn er dich mehr
und yer Nattit weniger sehen wird, so kommt es
ins gleiche."
(Fortsetzung ſolgt )