Der „D eu t ſ<e Volksbote'" erſcheint zweimal
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ghofstraße 9. Telegramm - Adreſſe: „Volksbote“"
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Poſtzeitungsliste Nr. 1964a.
Heidelberg, Mittwoch den 17. November 1897.
ß. Jahrgang.
Nochmals die Affaire Dreyfus.
Was die Judenblätter verſchweigen.
Vom Pariser Berichterstatter des Deutschen Vollsblattes.
: Paris, 6. November.
Seit der Verurtheilung des Verräthers Dreyfuß
scheinen seine Freunde und ſeine Familie den Ent-
ſchluß gefaßt zu haben, die öffentliche Meinung zu
belästigen, indem sie alle drei Monate die Erinnerung
an dieſe ſchamloſe Angelegenheit auffriſchen.
_ Zweimal haben ſie verſucht, den Verräther ent-
wiſchen zu laſſen, und zweimal war die Regierung
genöthigt, Wächter der Teufelsinſel zu entlassen, welche
bestochen waren, um die Ausführung des NKomplots
zu begünstigen. Wenn man das Publikum nicht mit
der Flucht des Verräthers beſchäftigt, so iſt es nichts
mit ſeiner Rehabilitirung, und in dieſem Augenblicke
ſtehen wir vor dem dritten Verſuch, welcher sich ge-
rade 10 Monate nach dem zweiter vollzieht, deſſen
unglücklicher Urheber ein Jude, Bernard Lazar war.
Diesmal ist der Mann, welcher den traurigen
Muth hat, dieſe Initiative zu ergreifen, ein Greis,
einer der Vize - Präsidenten des Senats, einer der
ſeltenen Helden der Republik von 1870/71, welcher
ſich noch nichl entehrt hat. Herr Scheurer - Kestner
hätte ſich wirklich noch einige Jahre ruhig verhalten
können : man hätte ihn in die Erde verſenkt, wenn
ſchon nicht mit Ehren, so wenigstens mit einer faſt |
wohlwollenden Gleichgültigkeit, denn er wäre der ein-
zige Republikaner ſeiner Zeit gewesen, deſſen Name
nicht dem der Diebe, Schurken und öffentlichen Miſſe-
thäter beigeſellt worden wäre. s
_ Heute iſt er im Begriffe, als Mitarbeiter eines
z Reinach, des Chrloſeſten unter den Panamisten, einen |
Verräther zu retten, welchen man mit 12 Kugeln in
den Rücken hätte flsiliren sollen. Dieser Umstand
hat die Anregung gegeben, die Vergangenheit dieses
Individuums zu beleuchten. Im Jahre 1862 war
Scheurer - Kestner den Revolutionären beigeſellt, die
durch das Unglück Frankreichs 8 Jahre später ihr
Glück machten. Er reiſte ins Ausland und ließ in
Deutschland Broſchüren und Pamphlete republikaniſch-
revolutionären Inhalts drucken, welche dazu bestimmt
waren, im Lande Spaltungen hervorzurufen. Am
21. März deſſelben Jahres wurde er zu drei Monaten
Gefängniß verurtheilt wegen „Umtrieben und sträf-
lichem Einverſtändniß im Ausland in der Absicht, den
öffentlichen Frieden zu siören." Sein Advokat war
ſein Freund Herr Jules Grevy, später Präfident der
Republik, welcher, nachdem er sich bis zum 80. Jahre
die Reputation der unantastbaren Integrität eines
Cato bewahrt Jatte, sich ſchmählich aus dem Elyſee
flüchten mußte, wo er mit ſeinem Schwiegersohn das
Feuilleton.
Der Eine und der Andere.
Erzählung von Ha n 8 W a rr in g.
' : (Nachdruck rerboten).
(Foriſetzung.)
_ Sie hatte kein Wort gegen ſein Weggehen gesagt,
fie kannte den Grund, ſie wußte, daß für dieſe beiden,
die ihr Herz zu ſpät erkannt hatten, nur in der
Trennung Errettung von Schuld und Schande lag.
Aber daß die beiden Menſchen, die sie als Kinder
mit gleicher Liebe genährt, die sie wie Brüder
gehalten hatte, ſich jezt haßten, daß sie nicht neben-
einander leben konnten, das machte ihr das Herz
unſäglich ſchwer. |
; „Verzeih Mutter, daß ich fortgehe und dich mit
den “gs um den Vater und um die Wirthſchaft
allein laſſe!“.
„Denke nicht an mich, mein Sohn ! Ich werde
mit dem Leben ſchon fertig werden, ~ es ist mit
redlichem Willen noch immer gegangen. Und der alte
Hendrick iſt zuverläſſig, und die Chriftel hat ihre
Augen überall und ift treu wie Gold ~ es wird
ſchon gehen, mein Sohn. Und wenn ich ihn brauche,
wird der Martina ja auh
y„Der nicht, Mutter, der ist nicht werth, daß er
über die Schwelle deines Hauſes tritt, ~ nicht werth,
berühmte Ordensvermittelungsbureau gegründet hatte.
Man kehrt immer zu ſeiner erſten Liebe zurück, und
wir wundern uns nicht, ia dem verdächtigen Intri-
ganten von 1897 den „wegen Umtrieben im Aulande“
verurtheilten Verſchwörer von 1862 wiederzufinden.
Dieses vorausgeſchickt, halte ich es für nüglich,
zwei Dokumente wieder in Erinnerung zu bringen,
welche die jüdiſche Preſſe in Vergeſſenheit glaubt, oder
vielleicht zu glauben vorgibt, welche es aber nicht sind.
Sie haben ein doppeltes Verdienſt : erstens führen ſie
die Frage zu ihrem Ausgangspunkt zurück und prä-
ciſiren klar die Thatſachen, welchen die jüdiſche Preſſe
die vagen Auslegungen der Monod, der Scheurer-
Kestner, Reinach und Bernard - Lazare unterſchieben
möchte; in zweiter Lin’e ſchildern sie eine ergreifende
Scene, deren echt dramaliſches Interefſe der Leſer ge-
wiß zu würdigen wiſſen wird.
Seit einiger Zeit bemerkte die Regierung soge-
nannte „kuitss“, Abgänge von Schriftstücken, in der
Rue St. Dominique, in den Bureaus des General-
ftabs, ohne daß es gelingen konnte, die Thäter zu
"'zfzzets. Tages konnte man, unter bekannten Um-
ständen, eines Schriftstückes habhaft werden, welches
zur Ermittelung des Schuldigen beitragen konnte. Der
genaue Text dieses Schriftstückes lautet in deutſcher
Neher! anacluns einer Nachricht von Ihnen,
daß Sie mich zu sehen wünſchen, sende ich Ihnen
dennoch, mein Herr, einige intereſſante Mittheilungen :
1. Eine Notiz über die hydrauliſche Bremſe
Nr. 120 und die Art und Weiſe, wie dieſes Stück
funktionirt hat.
deu im neuen Plan gebracht).
3. Cine Notiz über eine Abänderung in den For-
mationen der Artillerie.
4. Eine auf Madagaskar bezügliche Notiz.
5. Das Projekt zu dem Handbuche der Schieß-
theorie der Jeldartillerie (14. März 1894).
Es ist außerordentlich ſchwierig, sich dieſes letzte
Schriftstück zu verschaffen und ich kann es nur ſehr
wenige Tage zu meiner Verſügung haben. Der
Kriegsminister hat eine bestimmte Anzahl davon an
die Corps verſchickt und diese Corps find dafür ver-
antwortlich. Jeder im Besitz des Dokuments befind-
liche Offizier muß daſſelbe nach den Manbvern ab-
liefern. Wenn Sie also daraus notiren, was Sie
intereſſirt und es nachher zu meiner Verfügung halten
woller, ſo werde ich es nehmen. Außer Sie wollen,
hf q . is extenso copiren laſſe und Ihnen die
daß er noch einmal dir ins Angesicht sieht! Von
| dem nimm keine Gefälligkeit an, ~ lieber geh einen
Fremden darum an !“
Die Mutter blickte nachdenklich vor sich hin:
HAlso das ist's !“ sagte sie, während ein leiſes, weh-
müthiges Lächeln um ihre Lippen zuckte, „er hat fich
zu meinem Richter gemacht! Er hat nachgeſprochen,
was andere ihm vorgeſprochen haben. Einst hat mir
dieſes böſe Gerede ſchweren Kummer gemacht, jetzt bin
ich ruhig. Ein gutes Gewissen hilft über manches
hinweg. Aber der Martin sollte doch beſſer von mir
denken, — es ift hart, ſolche Erfahrung zu machen !“
Am nächsten Morgen, als die Glocken das Weih-
nachtsfeſt einläuteten, lenkte ein Schlitten aus dem
Schreinerhofe auf die Straße hinaus. Der alte
Hendrick und Rudolf saßen darin. Am Fenster stand
die Mutter und blickte ihnen nach, bis das Gefährt |
an der Biegung der Straße verſchwunden war. Dann
ſank sie in den Stuhl nieder und barg das Gesicht
in den Händen. Das war ein Abſchied gewesen für
lange Zeit.
Er ſelbſt hatte geſagt, daß Jahre vergehen
uten, ehe er wieder zur Heimath zurückkehren
Vun.
Es kamen fſtille, ſehr stille Tage für Frau
Marianne, die fie im ewigen Kreislauf ihrer wirth-
ſchaftlichen Pflichten durchlebte. Sie rang tapfer
danach, sich genügen zu laſſen an dem, was der Tag
2. Eine Notiz über die Bedeckungs-Truppen
(troupes de courerture. Einige Abänderungen wer-
Ich reiſe zu den Manövern ab.“ – ~
Um den Urheber des durch dieses Papier so klan
gekennzeichneten Verbrechens ausfindig zu machen,
mußte man wissen, wer den Brief geſchrieben hatte.
Nun leitete der Generalstabschef, General von Vois-
heſee im größten Geheimniß eine offiziöſe Unter-
uchung ein. .
Nach ſuccesfiven Ausſcheidungen lenkte sich der
Verdacht auf Capitain Dreyfuß, dem 4. Bureau des
Generalstabes attachirt. Man verglich die Schrift ds
in Rede stehenden Schriftstückes mit derjenigen ver-
schiedener den Akten entlehnter Stücke. Der Verdacht
wurde zur Gewißheit bei den mit der Unterſuchung
betrauten Perſonen.
Man entſchloß sich, dem vermuthlich Schuldigen
eine Falle zu stellen, ihn mit seinem Verbrechen zu
confrontiren. Während man Herrn Cochefert, Chef
der Sicherheitsbehörde, davon verständigte, fich bereit
zu halten, ließ General von Boisdeffre Dreyfus im
ſein Cabinet befehlen. -- .
Der General hatte ein Abſceß an der Hand vor-
geschützt und sich den Finger mit einer Bandage, oder
wie wir ſagen, mit einer „Poupee“ umwickelt.
„Setzen Sie fich an meinen Tisch, Capitain“.
ſagte er ihm, „uud haben Sie die Gefälligkeit, mir
als Sekretär zu dienen : ich kann nicht schreiben.“ |
Ohne Mißtrauen gehorchte Dreyfußk. Und der
General von Boisdeffre diktirte ihm folgenden Brief,
sogenannte „lettre d'’experience“ :
Kriegsminiſterium Franzöſiſche Republik..
Paris, 18. Oktober 1894.
Die dringendſte Nothwendigkeit, mein Herr, augen-
blicklich wieder in den Beſit der Dokumente zu gen.
langen, welche ich Ihnen vor meiner Abreise zu
den Martövern zukommen ließ, zwingt mich, Se.
um ſchleunige Rückſendung derſelben durch Uebere
bringer dieſes, welcher eine sichere Perſon it, zz.
tits erinnere Sie daran, daß es fich handelt um:
I. eine Notiz über die hydraulische Bremſe de
Kanone 120 und über Funktionirung derselben bei
den Manövern ; 2. eine Notiz über die Bedeckungs-
truppen ; 3. eine Notiz über Madagaskar . . .
Man fieht, daß dieſer Brief nicht genau die Aus-
drucksweiſe des inkriminirten Dokumentes wiedergibtze.
aber alle wichtigen Worte finden sich in verſchiedener
Anordnung wieder. Dieſe Vorſicht war nöthig, damit
Dreyfuß die Falle nicht gleich bei den ersten Worten
witiere.
Wirklich merkte Dreyfuß Anfangs nichts. Aber
als man an die Aufzählung kam, welche ihm deutlich
ſeine Sendung an eine fremde Botſchaft ins Gedächt-
niß rief, fing er an zu zittern und war bald nicht
ihr brachte, und ihre Wünſche nicht darüber hinaus-
ſchweifen zu lafſen. Aber jenes ungeſtillte Sehnen in
ihr, das sie nicht mit Namen nennen konnte, das
sich durch Arbeit und strenge Pflichterfüllung immer
noch nicht für befriedigt erklären konnte, wollte noch
immer nicht zur Ruhe gelangen. Sie machte sich
Vorwürfe darüber. Sie hatte eben noch nichts von
dem Rechte des „Sichauslebens nach ſeiner Eigenart,
von den Pflichten gegen die eigene Individualität“
gehört. Sie hielt dieses nicht völlige Aufgehen in
ihrem Berufe für eine Auflehnung gegen einen
höheren Willen. Sie hatte ehen keine Ahnung von
moderner Weltanſchauung, fie war eine ganz einfache,
altmodiſche Frau, die, wenn nicht alles stimmen
wollte, den Fehler in fich und nicht in der Ungunft
der Verhältnisse ſuchte. .. ,
„Werde nur mit dem Augenblicke fertig, gieh
jeder Stunde an Arbeit und Sorge ihr volles Recht,
dann wird es ſchon gehen! Dann werden sich die
Stunden unglaublich ſchnell zu Tagen und Wochen
an einander reihen“, so ſagte ſie oft halblaut vor
ſich hin. Und sie hatte recht. Jn dem ewigen
Einerlei immer wiederkehrender Pflichten verging der
Winter raſch und machte dem Frühling Play, der
Frühling ging in den Sommer über, der Herbſt kam
heran und färbte die Blätter gelb und roth, und die
Frau mußte sich geftehen, daß dieſes Fahr troy
mancher Sorgen und Schmerzen gesegnet und an
Freuden nicht leer gewesen war.
(Fortſezung folgt).