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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,1.1917

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1917)
DOI Artikel:
Gregori, Ferdinand: Ideale beim Theater
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https://doi.org/10.11588/diglit.14422#0029

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steht den andern oder will oder darf den andern verstehen. Dichter, Spiel-
leiter und Darsteller haben eben jeder seinen besonderen idealen Zuschauer
im Auge, im Leibe.

DerZuschauer. So bunt das Publikum gemischt ist, so bunt will
es im Theater unterhalten sein. Warum wird der Witz allgemein be--
lacht? Weil er scheinbar unvereinbare Gegensätze durch eine Messerspitze
voll Verstand zusammenbringt. Im allgemeinen werden auf der Bühne
gelinde Spannungen durch Gegensätze gesucht, die sich mit Hilfe einer
mäßigen Publikums-Aufmerksamkeit wieder entspannen. „Bei dem Maß
ist rechte Weise", wie Paul Fleming vom Küssen sagt. Starke Aberraschun-
gen lassen die Zuschauer nur innerhalb der handelnden Bühnenpersonen
gern gelten; sie selbst wollen schon vorher, wenn auch nicht bis aufs aller-
letzte, so doch bis auss vorletzte Gipfelchen der Lösung geführt sein. Die
Lustspiel- und Schwankdichter mittlerer Prägung beherzigen solche Er-
fahrungen und herrschen trotz Kritik und künstlerischer Kultur in die Breite.
Aber Kleists „Krug" fordert zuviel Aufmerksamkeit, er will das Publikum
eine reichliche Stunde lang ununterbrochen zu sich zwingen; dagegen wehrt
sich's, indem es ihn meidet. — „Faust" hat nicht umsonst sein „Vorspiel
auf dem Theater" mit der Zuschauer-Psychologie: er bringt vieles, um
nicht zu sagen alles, und darum manchem, jedem etwas. Ohne als Theater-
stück komponiert zu sein, ist er ein rechtes Stück fürs Theater geworden.
Hätten wir ein halbes Dutzend seiner formoffenen Art, selbst auf Kosten
Hebbelscher dramatischer Geschlossenheiten, wir dürften von den Zuschauern
besser denken. Den meisten mag ja die Gretchenepisode das Ilm und Auf
des ersten Teiles sein, aber spurlos geht auch der alte Faust nicht an
ihnen vorüber. Sie werden reicher, ohne es zu wissen und zu wollen.
Auch wer nur halb hinhört, ist beglückt; Kleists Prinz würde so einen
Halben quälen.

Kleists und Hebbels Werk steht dabei der idealen dramatischen Form
näher als das Goethes, aber Drama und Theater decken sich eben nicht; der
Durchschnittszuschauer fühlt sich nicht gern eingeschränkt, kneift gern einmal
aus. Daß auch die feinste Auslese der Zuschauer „Faust" über „Gyges"
und den „Homburg" stellt, läßt den Schluß zu, daß der genius loci vor
dem genius vitae kapituliert. Nicht die Forderungen der Bühne entschei-
den, sondern die Lebensfülle des dargestellten Werkes. Leben aber fühlt
jeder Zuschauer auf sich wirken, hoch und niedrig. Beim ersten Aufgehen
des Vorhangs soll es aus den Linien und Farben der Nmwelt hervor-
sprühen und, sobald das Wort einsetzt, aus der menschlichen Stimme. Kein
Schritt, kein Blick, der nicht Symbol innerer oder äußerer Vorgänge wäre!
Line Pause ist nur erlaubt, um unaufdringlich und doch deutlich hinüber-
zuleiten zum nächsten Wort des Lebens; selbst die Zwischenakte dürfen
eine gewisse, durchs Gefühl wohl begrenzte Spanne Zeit nicht über-
schreiten. Dramatischer Wert des Wortes und sein schauspielerischer Aus-
druck sind eine Einheit; welcher Schauspieler lauter oder leiser spricht,
als es die Bedeutsamkeit des Augenblicks bedingt, verscherzt die Teil-
nahme des Zuschauers.

Ganz merkwürdig, wie verschieden lange das Publikum ausharrt! Ein-
mal ist ihm die dritte Stunde zuviel, ein anderes Mal die vierte zu
kurz. Es will grade nur die Schicksale auskosten, keine Minute zugeben,
keine verlieren. Alles, was an Schicksalsmöglichkeiten in ihm selbst ruht,
will geweckt, gestaltet, zu Ende gebracht sein. Daher die Freude an den

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