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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,1.1917

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Heft 3 (1. Novemberheft 1917)
DOI Artikel:
Troeltsch, Ernst: Ernste Gedanken zum Reformations-Jubiläum
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https://doi.org/10.11588/diglit.14422#0126

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und Kirche als erste unter den Kriegsgewinnern zu sehen hofften, still
geworden.

Das hat natürlich seinen tiefen Grund und ist nicht bloß in Deutsch-
land so, obwohl hier deutsche Ehrlichkeit den Kampf um geistige Wahr--
heiten immer noch mit einer sonst unerhörten Hingabe vollzieht. In
diesem Sinne hat unsere Industrialisierung und Amerikanisierung das
alte Lutherdeutschland noch nicht völlig zu verschlingen vermocht. Aber
um so klarer ist, daß dieser Zustand nicht bloß aus weltsinniger Kälte
und religiöser Lrmattung, sondern aus inneren Wandelungen der reli--
giösen Seele stammt. Hier liegen ja in der Hauptsache die Vorgänge und
Entwickclungen ganz klar zutage. Aus dem Werke Luthers — wir halten
uns jetzt beim Reformationsjubiläum nur an den Protestantismus und
lassen die katholische Kirche beiseite — entsprang das orthodoxe Kirchen--
tum, das man heute „Altprotestantismus" nennt, weil auch der bekenntnis--
rnäßigsre Protestantismus von dem eigentlichen Grunddogma, der Philo--
sophie und dem Weltbild jener Tage, ihrer Ethik und der Berknüpfung
mit vergangenen Staats- und Gesellschaftszuständen sich abgewendet hat.
Aus ihm ist im 18ten Iahrhundert in einer neuen staatlichen, gesell-
schastlichen und wissenschaftlich-künstlerischen Welt der Neuprotestantis-
mus hervorgegangen, der alle protestantischen Konfessionen in der Union
verschmilzt, den strengen Dogmatismus absoluter Schriftwahrheiten und
absoluter Schriftbeweise aufgegeben hat und mit der modernen Kultur-
ethik so verwachsen ist, daß er sein Recht und seine Geltung in der
Hauptsache nur auf diese allgemeinen Kulturleistungen begründet, daß
er die religiöse Seele der modernen Kultur sein will mit bald stärkerer,
bald schwächerer Abgrenzung seiner dogmatischen Ideenwelt gegen die
moderne Wissenschaft. Allein trotz ausgezeichneter Theologen und Denker
und trotz hingebender Praktiker ist ihm eine derartige Selbstdurchsetzung
auf die Dauer nicht eigentlich gelungen. Das heutige geistige Deutschland
ist in Wahrheit überkirchlich und überkonfessionell, soweit es einen inneren
Zusammenhang mit dem religiösen Leben überhaupt besitzt, und läßt
sich in die Gegensätze katholischen und protestantischen Denkens nicht gerne
allzu tief hineinziehen. Es zieht aus beiden Kirchen und ihren Äber-
lieferungen Nahrung, und wenn hierbei der überwiegende Einfluß des
Protestantismus auch tatsächlich ganz außer Frage ist, so bedeutet das
doch keine Liebe zum protestantischen Kirchentum. Vielmehr sieht man
die Kirchentümer beider Konfessionen gerne auf einer Ebene und zieht
sich von ihnen beiden zurück zu freier Gestaltung der aus ihnen fort-
wirkenden und mit dem modernen Denken sich verbindenden religiösen
Kräfte. Nnd auch diese nennt man heute lieber „religiös" als eigentlich
„christlich", weil ein außerkonfessionelles Christentum zu konstruieren
immer wieder in alte, längst unerträglich gewordene dogmatische Strei-
tereien zurückführen würde und der Begriff des Christentums selbst
so überaus schwer außerkonfessionell festzulegen ist. Aus dem ersten
vorkirchlichen Lvangelium kann man es nicht konstruieren; denn das ist
unserer Welt noch fremder als die Konfessionen; die Selbsttäuschungen
dieser Art sind aufgegeben. Aus der Einerleiheit mit der natürlichen
und vernünftigen Religion kann man es auch nicht mehr deuten; denn
das war stets eine radikaleUmdeutung, und dieseNmdeutung hat heute auch
noch ihre Stütze in der Selbstverständlichkeit einer natürlichen Vernunft-
religion verloren. Auf der andern Seite empfindet man freilich auch

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