Wirkung treten — immer umgibt die Menschen der Druck, welcher von
der moralischen Atmosphäre ihres Lebenskreises ausgeht, stärker, gefühlter
hier, geringer, abgslenkter dort, einmal mehr als Zwang, dann mehr
als Sporn empfunden, bald niederdrückend, bald stählend, geistbereichernd
und geistentfaltend oder geistberuhigend und geisttötend, nie aber voll-
kommen weichend. Und immer Folge und Ilrsache zugleich auf dem
Gebiet der Spanuung zwischen Lebenswillen und Notgebot, von dem
gesprochen wurde. Die Richtung des Lebenswillens geht auf anderes als
was der Zwang erheischt, erst einmal des Lebens Notdurft nebst einem
Wenigen darüber hinaus und dann des Vaterlandes Gedeihen ganz
äußerlich sicherzustellen. Diese Spannung war in führenden Kreisen Eng-
lands weit geringer als in Deutschland; so war auch dort besserer Boden
für eine Glück-Moral als in Deutschland. Denn Not und Pflicht-Moral
gehören eng zusammen. Pflicht-Moral ist die starke tzelferin zur Äber-
windung innerer und äußerer Widerstände. Sie umgibt kleinste und
größte Aufgaben mit dem Anreiz: sind sie erfüllt, so ist nicht nur das
unmittelbare, greifbare Ergebnis erzielt, sondern auch der sittlichen
Forderung genug getan; sie kennt dabei keine Grenzen der Lebens-
aufgabe — was immer zu leisten irgend möglich ist, läßt sie bald auch
als notwendig erscheinen; erst der Erschöpfte darf das Bewußtsein
voll, restlos erfüllter Pflicht haben, und selbst er kaum.* Aus alledem
ist in Deutschland eine begeisterte Verherrlichung der Pflicht-Moral her-
vorgegangen, mit der allerdings die Begeisterung für gewisse einzig-
artigs Begleiterscheinungen des Wachsens dieser Moral sich innig ver-
band. Von ihrer Höhe herab blickt man heute mit größerer Abschätzigkeit
als je auf die „englische Krämer-Moral", als welche man die Glück-
Moral versteht. Trotzdem, trotz der weiten Verbreitung dieser ab-
schätzigen Ansicht dürfte es an der Zeit sein, den Blick von der Wert-
vergleichung ab- und auf die Tragik hinzuleuken, welche in diesem
Gegensatz steckt. Ruhig bedacht, erscheint das Mißbehagen jener Tisch-
gesellschaft über den „Neuen" begreiflich. Stände dieser nicht im Banne
der Not, so wäre er des Nrteils gewiß, ein Streber und Geldmacher zu
sein, während die andern als Träger einer vernünftigen Lebensauffassung
erschienen. Äbertragen auf die Völker, bedeutet das am Eude, daß für
Deutschland weniger Anlaß besteht, die Glück-Moral zu verachten, als
sie mit neuem, vertieftem Gehalt zu erfüllen. Mag man Bentham,
Spencer, Mill und andre englische Ethiker ablehnen, die Richtung ihres
Denkens ist die Richtung des Lebenswillens vieler Milliarden. Nnd ein
großes Geschenk an Deutschland wäre es, wenn uns ein Ethiker erstäude,
der dem Ideal des Glücks eiuen unvergänglichen Gehalt schüfe, ohne daß
darum die Pflicht-Moral verbogen würde. Die Aufgabe ist gewaltig genug
und vielleicht wirklich nicht mit den Mitteln jener Engländer lösbar. Es
gälte eine Riesensynthese. Aber sie würde einen Teil des furchtbaren
Problems lösen, das uns mit dem tragischen, Europa heute durch-
* Vgl. den Aufsatz „Pflicht" im t- heft des vorigen Iahrgangs, sowic den
über „Dic Lagc der Ethik in unsercr Zcit" (Kw. XXX, 20, 6P.
der moralischen Atmosphäre ihres Lebenskreises ausgeht, stärker, gefühlter
hier, geringer, abgslenkter dort, einmal mehr als Zwang, dann mehr
als Sporn empfunden, bald niederdrückend, bald stählend, geistbereichernd
und geistentfaltend oder geistberuhigend und geisttötend, nie aber voll-
kommen weichend. Und immer Folge und Ilrsache zugleich auf dem
Gebiet der Spanuung zwischen Lebenswillen und Notgebot, von dem
gesprochen wurde. Die Richtung des Lebenswillens geht auf anderes als
was der Zwang erheischt, erst einmal des Lebens Notdurft nebst einem
Wenigen darüber hinaus und dann des Vaterlandes Gedeihen ganz
äußerlich sicherzustellen. Diese Spannung war in führenden Kreisen Eng-
lands weit geringer als in Deutschland; so war auch dort besserer Boden
für eine Glück-Moral als in Deutschland. Denn Not und Pflicht-Moral
gehören eng zusammen. Pflicht-Moral ist die starke tzelferin zur Äber-
windung innerer und äußerer Widerstände. Sie umgibt kleinste und
größte Aufgaben mit dem Anreiz: sind sie erfüllt, so ist nicht nur das
unmittelbare, greifbare Ergebnis erzielt, sondern auch der sittlichen
Forderung genug getan; sie kennt dabei keine Grenzen der Lebens-
aufgabe — was immer zu leisten irgend möglich ist, läßt sie bald auch
als notwendig erscheinen; erst der Erschöpfte darf das Bewußtsein
voll, restlos erfüllter Pflicht haben, und selbst er kaum.* Aus alledem
ist in Deutschland eine begeisterte Verherrlichung der Pflicht-Moral her-
vorgegangen, mit der allerdings die Begeisterung für gewisse einzig-
artigs Begleiterscheinungen des Wachsens dieser Moral sich innig ver-
band. Von ihrer Höhe herab blickt man heute mit größerer Abschätzigkeit
als je auf die „englische Krämer-Moral", als welche man die Glück-
Moral versteht. Trotzdem, trotz der weiten Verbreitung dieser ab-
schätzigen Ansicht dürfte es an der Zeit sein, den Blick von der Wert-
vergleichung ab- und auf die Tragik hinzuleuken, welche in diesem
Gegensatz steckt. Ruhig bedacht, erscheint das Mißbehagen jener Tisch-
gesellschaft über den „Neuen" begreiflich. Stände dieser nicht im Banne
der Not, so wäre er des Nrteils gewiß, ein Streber und Geldmacher zu
sein, während die andern als Träger einer vernünftigen Lebensauffassung
erschienen. Äbertragen auf die Völker, bedeutet das am Eude, daß für
Deutschland weniger Anlaß besteht, die Glück-Moral zu verachten, als
sie mit neuem, vertieftem Gehalt zu erfüllen. Mag man Bentham,
Spencer, Mill und andre englische Ethiker ablehnen, die Richtung ihres
Denkens ist die Richtung des Lebenswillens vieler Milliarden. Nnd ein
großes Geschenk an Deutschland wäre es, wenn uns ein Ethiker erstäude,
der dem Ideal des Glücks eiuen unvergänglichen Gehalt schüfe, ohne daß
darum die Pflicht-Moral verbogen würde. Die Aufgabe ist gewaltig genug
und vielleicht wirklich nicht mit den Mitteln jener Engländer lösbar. Es
gälte eine Riesensynthese. Aber sie würde einen Teil des furchtbaren
Problems lösen, das uns mit dem tragischen, Europa heute durch-
* Vgl. den Aufsatz „Pflicht" im t- heft des vorigen Iahrgangs, sowic den
über „Dic Lagc der Ethik in unsercr Zcit" (Kw. XXX, 20, 6P.