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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,1.1917

DOI issue:
Heft 4 (2. Novemberheft 1917)
DOI article:
Tönnies, Ferdinand: Gedanken zum 31. Oktober 1917
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https://doi.org/10.11588/diglit.14422#0153

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schen vervollkommnet, wie die Natur selber durch Erziehung des Meu--
schengeschlechts, dessen Veredlung bis zum Stadium der Gegenwart voll-
eudet habe; der aber endlich sogar durch richtige Verbinduugen vou
Männern und Frauen die Erzeugung der besseren, „höheren" Menschen
zu bewirken vermöge.

In Naturwissenschaft und Technik hat diese Denkungsart ihre festen
Grundlagen; die wirklichen und gewaltigen Leistungen in diesen Gebieten,
die das Antlitz der Erde verwandelt haben, geben ihr die Gewähr. Zur
Zeit der Reformation dachte man noch kaum an diese Dinge. Das Be-
wutztsein war durchaus in Religion verankert. Nicht die Vermehrung
leiblicher Wohlfahrt, sondern die Rettung und Erlösung der armen Seele
des Menschen erschien als notwendiger Gegenstand der Sorge dessen,
der auf sein eigenes Heil und das seiner Mitmenschen bedacht sei. Wie
noch heute im Orient die vorwiegende Gedankenwelt, so sah man auch
im Abendlande jenseit des Todes die wahre Bestimmung des Menschen
und das Ziel seines richtigen Strebens. Nnd wie an den gewissen Tod
des Einzelnen, so dachte man immer an den nahen Tod der ganzen welt-
lichen Herrlichkeit, an den Antergang des Säkulums, der Civitas Diaboli,
an das Ende des letzten, durch den Propheten verkündeten Reiches, des
römischen Reiches, dem als fünftes nur noch die Monarchie, in der
Christus Alleinherrscher sein werde, folgen könne. Zur Zeit Luthers meinte
man deutlicher als je die Zeichen des Verfalles wahrzunehmen; um so
mehr schien es auch geboten, zu erkennen, daß die Rechtfertigung allein
durch den Glauben, also durch vollkommene Hingebung an den unausweich-
lichen göttlichen Willen geschehen und nicht durch äußerliche Werke, bei
fortdauerndem Leben im Walde des Irrtums und Nnglaubens, erreicht
werden könne. Freilich lag schon hinter dieser Anschauung und wirkte
in sie hinein der Vorbote des Zeitalters der Aufklärung: der Humanis-
mus, der gegen das finstere Mittelalter eine andere Erneuerung und
Wiedergeburt, die des heidnischen Altertums, forderte uud beförderte; er
mußte mit anderen Augen in die Zukunft blicken, und es waren die Augen
der siegreichen Denkungsart. Zum Siege verhalfen ihr Mathematik, Natur-
wissenschaft und technische Arbeit.

Heute, wo diese Mächte triumphieren, sind aber auch viele an ihnen
irre geworden. Mitten im weltstädtischen Gewühl unserer Zeit erheben
sich die Notrufe einer in ihm verkümmernden Menschheit. Nnd der sozio-
logische Denker kann nicht umhin, sich anders als Humanismus, Aüf-
klärung, Naturwissenschaft zur Entwicklungsgeschichte der Kultur zu stellen.
Die Frage der Zukunft unseres europäischen Lebens erscheint uns un-
abhängig von Bejahung oder Verneinung jener Abstammungstheorie, die
mit vielen Millionen von Iahren rechnet, und wohl recht haben mag,
wenn sie die wenigen Iahrtausende der Kulturgeschichte auch in dem
Lichte betrachtet, daß sie den durchschnittlichen menschlichen Typus etwas
weiter vom ursprünglichen Typus, den man als noch heute etwa durch
den Hottentotten dargestellt denkt, entfernt haben. Für die kommenden
Iahrhunderte folgt daraus nichts. Der Weltkrieg hat uns mit ge-
waltigen Schlägen die Wahrheit eingehämmert, von der das Platensche

Wort gilt. Dies alle, vergißt

Es jeder gerne jeden Tag —

die Wahrheit, daß die gepriesene Technik auch eine ungeheure Macht der
 
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