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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,3.1918

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1918)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Vom Zeitunglesen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14373#0074

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richten, für deren Kenntnis es doch nicht einmal auf ein paar Tage ankäme!
Man will aber auch recht viel Verschiedenes erfahren. Während des Krieges
finden viele nicht einmal mehr ihr Genüge, wenn nicht mindestens jeden Mor-
gen eine größere Heeresaktion „im Blatt steht". Neugier ist keine „Schlechtig-
keit"; manche ernsten Denker, z. B. Popper-Lhnkeus, haben sie als einen wesent-
lichen Kernteil des Willens zum Leben überhaupt bezeichnet. Was bietet das
Leben Reizvolles? Täglich nene Ereignisse! So befriedigt sich unser Lebens»
wille. Die Naturmenschen sind nnglaublich „neugierig", wir haben das also
ererbt. Mit solchen Gedanken kann man das Wachsen des Zeitungwesens als
eine biologisch sehr förderliche Erscheinung betrachten. Freilich, diese „reiz-
volle" Befriedigung wirkt anch wohl wiederum etwas biologisch abträglich,
indem sie die Reizsamkeit nnd Nervosität der Menschen erhöht.

Ein andrer Zweck, der die Menschen zum Zeitunglesen sührt, betrifst
nicht die Erkenntnissphäre, sondern die Lebenssicherheit. Wir Men-
schen kommen ohne Frags zu allermeist mit einem hinreichenden Selbst-Wert»
bewußtsein auf die Welt. Nichtsdestoweniger fürchten wir uns sehr vor
der Einsamkeit. Darin liegt etwas Instinktmäßiges, ein Erbe aus ältester
Vergangenheit. Die Entwicklung vom Tier zum Menschen und vom Men-
schen zur Menschheit hat ihren vornehmsten Grund in der Hordenbildung;
erst durch das gemeinsame Leben mehrerer, dnrch Gruppenbildung, hat sich
diese Entwicklung anbahnen nnd vollziehen können. In uns allen lebt darum
ein Trieb nach Gemeinsamkeit. And das sowohl hinsichtlich unsres
körperlichen alltäglichen Lebens, als auch hinsichtlich unsres seelischen: wir
suchen instinktiv nach einem Kreise ähnlich oder genau so wie wir Denkender,
der uns dann die Richtigkeit unsrer Ansichten bestätigt und uns in unsren
Anschauungen bestärkt. Die Naturmenschen schwatzen den ganzen Tag und
leben in steter Gemeinschaft, sich einander bestätigend und bestärkend. Solche
Bestärkung und Bestätigung unsres eigensten Wesens verleiht uns das
Sicherheitgefühl im Sein und Handeln. Das bietet uns die Zeitung so
bequem wie nichts andres — Bücher verlangen mehr Hingabe, in unsre Ver-
eine müssen wir erst hingehen; Freunde muß man erst suchen und aufsuchen,
aber die Zeitung bekommt man täglich zweimal für wenig Geld ins Haus.
Die deutlichste Sicherung nnd Bestätigung unsres Wesens liefert die Ieitung
nun dadurch, daß sie unser Urteil über die Dinge der Welt ausspricht.
„Unser Arteil". Die meisten Menschen lesen ja nur eine Zeitung, die so
urteilt, wie sie selbst urteilen würden, lesen ihr „Parteiblatt", ihr „Leibblatt".
Zweifellos suggeriert dieses Blatt viele einzelne Arteile seinen Lesern, zweifel-
los „haben" viele an sich kein Arteil, sondern „empfangen" es erst fix und
fertig von der Zeitung. Trotzdem scheint man mir die „Macht" dieser Presse
vielfach zu überschätzen, denn ihre Arteile sind in den allermeisten Fällen
nicht freie, der Leserschaft aus völliger Anabhängigkeit heraus zugemuteto
Außerungen, sondern nur leichtverständliche Formulierungen dessen, was ein
bestimmter politisch oder gesellschaftlich einheitlicher „Leserkreis" denkt oder doch
denken würde, falls er zum Denken käme. Auch die „Preßgewaltigen"
können zumeist nicht so wie sie vielleicht gern möchten, sondern sie sind an
die grundsätzlichen Anschauungen ihrer Partei und ihres Leserkreises gebun»
deu. Schon das verringert ihre Macht, wenn auch nicht den Schein ihrer
Macht; noch mehr tut das die andre Tatsache, daß die meisten wirklich ent»
scheidenden Gedanken und Entschlüsse ihrer Partei oder Gruppe von anderen,
vor allem von den Parteiführern, ausgesprochen werden, nicht von ihnen
selbst. Im großen und ganzen gilt dies wenigstens für Deutschland. In
England, Frankreich, Italien, Amerika soll die Presse wesentlich unabhängiger
und also „mächtiger" gegenüber dem Publikum, dafür wesentlich abhängiger
von Finanzleuten, Politikern usw. sein. Bei uns erscheint die Zeitung
allgemcinhiu als der „Mund der Menge". Wenn jemand im Zweifel ist,
sehen wir ihn oft seine Meinung doppelt laut und wortreich vertreten und

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