Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,3.1918

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1918)
DOI Artikel:
Corbach, Otto: Die Zukunft des Parlamentarismus, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14373#0078

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
anschauungen" in klare materielle Interessengegensätze aufzulösen. Die
Gewerkschaftsbewegung ist die wirksamste Bahnbrecherin der reinen Ver-
hältniswahl. Sie entlastet das Parlament mehr und mehr von dem
Zwange, sich um die örtlichen Gegensätze zwischen Grundbesitzern und Be-
wohnern zu kümmern, weil sie einerseits diese Gegensätze durch ihre
eigenen Kampfmittel mehr und mehr abzuschwächen vermag und an-
dererseits Sammelstellen für die aus den Ortsverhältnissen sich er-
gebenden sozialen Nöte bildet. Der Liberalismus zielt schließlich daraus
ab, den Traum des Konservativismus nach einem Wiederaufleben der
alten Ständevertretung zu verwirklichen, nur setzt die liberale Stände-
vertretung voraus, daß Vorkehrungen getroffen seien, die es aus-
schließen, daß der Grund und Boden als etwas anderes denn als Nähr-
quelle, Wohn- und Werkstätte, das Geld als etwas anderes, denn als
Tauschmittel dienen kann, daß keinerlei Produktionsmittel als Macht-
mittel mißbraucht zu werden vermag. Erst dann können sich die Vertreter
der einzelnen Berufe auf parlamentarischem Boden unter gleichen Be-
dingungen gegenübertreten, um ihre Interessen gegeneinander auszu-
gleichen. Erst dann ist auch die wirkliche Grundlage für die reine Ver-
hältniswahl gegeben, eine natürliche Gruppierung der Wählerschaft unter
dem Gesichtswinkel gemeinsamer Wirksamkeit für die Gesamtheit, statt
dem gemeinsamer Abhängigkeit von Grundbesitzern und Kapitalisten.
Dann würde es auch geuügen, die Parlamente der einzelnen großen Be-
rufsverbände aus allgemeinen Wahlen hervorgehen zu lassen, während
diese Parlamente Vertreter sür das Zentralparlament zu wählen hätten.
Die Wählermassen brauchten nur über Dinge zu urteilen, die sie, da
sie unmittelbar mit dem Berufe jedes einzelnen zusammenhängen, gründ-
lich verstehen, während es den von ihnen Gewählten überlassen bliebe,
vermöge ihres weiteren politischen Gesichtskreises zu bestimmen, welche
Personen würdig sind, die allgemeinen Staatsangelegenheiten zu regeln
oder regeln zu helfen. ^

Nicht weniger als durch die Verhältniswahl dürfte der Parlamen-
tarismus der Zukunft durch das Referendum beeinflußt und umgestaltet
werden. Das Referendum ermöglicht es der Wählerschaft, über wichtige
allgemeine Angelegenheiten unmittelbar zu entscheiden, und sichert sie
dadurch gegen gröblichen Mißbrauch der Mandate durch die Gewählten.
Es setzt die Träger neuer großer Reformgedanken in den Stand, diesen
unabhängig von der Mitwirkung politischer Parteien gesetzgeberische
Wirksamkeit zu verschaffen, wenn es ihnen gelingt, die Mehrheit der
WLHler dafür zu gewinnen. Dadurch fördert es die Sachlichkeit im
politischen Kampf; jede wichtige Frage kann von den programmatischen
Forderungen der Parteien losgelöst und unabhängig von deren ver-
wirrenden Einwirkungen dem Nrteil des Volkes unterworfen werden.
Das würde zu einer erheblichen Einschränkung des unfruchtbaren, zeit-
raubenden Wortstreites führen, der sich jetzt in den Parlamenten immer
wieder über neu auftauchende Probleme erhebt. Die Volksversamm-
lungen, nicht die Parlamente, wären die geeigneten Austragstätten für
solchen Meinungskampf geworden. Weil ein Volk seine Souveränität
auf die Dauer nur wahren kann, wenn es über seine Lebensfragen un-
mittelbar entscheidet, erklärte sich Rousseau für einen entschiedenen
Gegner des „Vertretersystems". Iedes Gesetz, das das Volk nicht persön-

57
 
Annotationen