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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 35.1914-1915

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Raphael, Max: Der Deutsche Stil
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https://doi.org/10.11588/diglit.7013#0485

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Der deutsche Stil.

KUNSTGEWERBESCHULE—HAMBURG. SCHÜLERZEICHNUNG (13 — 15 JÄHRIG).

tasie ihre Inhalte zur Erscheinung bringt, wie
sie sich mitteilt. Das germanische Kunstwerk
der bildenden Kunst geht mehr auf einen all-
gemeinen, mit einem seelischen Gesamtorgan
zu erfassenden Eindruck als auf eine rationale
optische Lesbarkeit. Der ausgedrückte Ge-
fühlszustand ist in gewissem Sinne losgelöst
von dem Körper, der ihn verwirklichen soll.
Die Mittel, die das Gefühl zum Ausdruck
bringen, sind möglichst unbestimmt, was man
dadurch erreicht, daß sie möglichst wenig zu
einer präzisen körperlichen Situation ausgebaut
werden. Die Ausdrucksmittel z. B. ein Falten-
wurf, ein Gleichnis, sollen an sich schwankende,
unfaßbare Werte haben, um zu verbergen, daß
sie einem ganz bestimmten und faßbaren Ge-
samtgefühl zugehören. Der das Ganze auf-
bauende Gegensatz der Motive wird klar, fast
übermäßig nachdrücklich herausgestellt, ganz
scharf und bewußt zur Erscheinung gebracht,
so daß der ausgedrückte Gefühlszustand eine
gewisse, leicht formulierbare Einseitigkeit er-
hält und dem deutschen Stil etwas Literarisches
gibt. So entsteht ein ganz eigenartiges Ver-
hältnis zwischen Bestimmtheit und Unbestimmt-
heit, das dem der romanischen Kunst gerade

entgegengesetzt ist. Hier hat der Teil und das
Zusammenklingen der Mittel eine völlige Faß-
barkeit und Plastizität, während das Ganze
etwas Unendliches, Unbegrenztes, mit dem Wort
und dem Verstand Unbezeichenbares ist. Dieses
romanische Verhältnis, das bei Franzosen und
Italienern in sich wieder verschieden ist, be-
ruht auf der Grundvorstellung, daß das Kunst-
werk ein in sich selbst geschlossener, sich selbst
genügender Organismus ist, der aus sich selbst
lebt und von der realen Welt der Dinge wie
der Seele grundsätzlich verschieden ist. Dieser
künstlerische Organismus teilt das Gesetz aller
Organismen, daß die Teile zum Ganzen in einem
gegenseitig bedingenden und bedingten Ver-
hältnis stehen, daß jeder Teil in sich lebendig
ist und im Aufbau und in der Entwicklung des
Ganzen einen durch den Ort in der Gestaltungs-
dynamik genau bestimmten Wert hat, daß von
Teil zu Teil eine wechselnde, freie, spielhafte
und doch durch das Ganze genau bestimmte
Steigerung stattfindet, die schließlich das ganze
Kunstwerk zu einer willkürlichen Erscheinung
auf dem Fundament strengster Gesetzlichkeit
macht. Der Begriff dieser organischen Gestal-
tung des Kunstwerkes fehlt den Deutschen als

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