REINHOLD
EWALD-
HANAU.
»WINTER«
BEMERKUNG ÜBER REINHOLD EWALD.
Seine holzgeschnitzte oder gemalte Madonna
sah der gläubige Gotiker gewiß nicht mit
den Augen des Schönheitssuchers an; er hatte
vor ihr die vertrauende Andacht des Beters
und die Gewähr eines besseren Himmels als
Nachfolge des mühereichen Erdendaseins. Viel-
leicht sah er sie überhaupt nicht, sondern dar-
über hinweg als einer sinnbildlichen Leiblichkeit
für sein Erlösungsbedürfnis. Wir aber sehen
diese alten Werke mit Augen an, am liebsten
die schon halb zerbröckelten, wir erfassen sie mit
Diesseitsorganen. Nicht die Gnadenbringerin
und nicht die Fürbitterin beim letzten Tag sehen
wir darin, sondern schönes Bildwerk und herz-
erfreuende Malerei — und genießen die sehn-
süchtigen Gefühle mit, daß es mit der Andacht
des Gotikers vorbei sei, daß man haben möchte,
was man nicht mehr haben kann, daß man
geplagt sei und das Haupt hinlegen will, und
kosten dazu noch eine Regung von Gewissen
aus. So anziehende Beigefühle haben einige neue
Maler veranlaßt, wieder Madonnen zu malen und
Heiligengeschichten vorzutragen, die alte Sache
verkleidet mit den Mitteln des neuen Zeitalters,
und eine Darstellung der Hemmungswünsche,
die im sausenden Ablauf der Dinge auftauchen,
zu riskieren. Untergemischt ist etwas Vor-
beischielen an der Gegenwart, etwas ro-
mantisches Sichhinausstehlen, manchmal auch
Heuchelei. Die Werke dieser Maler schwanken
zwischen einem „De profundis" und dem Alt-
jungfernkitsch und ihre Schöpfer verdienen oft
unser Mitleid. Wir bejahen sie zögernd und un-
ter Vorbehalten, und vergessen schwer, daß es
nur interessante Halbmenschen unsererZeit sind.
Was Reinhold Ewald, den Hanauer Maler,
angeht, so gehört er nicht zu ihnen. Wo in
seinem Werk eine Frau und ein Kind beisam-
men sind, ist es keine Madonna, sondern
schlechtweg Frau und Kind miteinander, ohne
jeden altertümelnden Beigeschmack, Frau und
Kind unserer nächsten gegenwärtigen Beteili-
XXVI. Januar 1923. 1
EWALD-
HANAU.
»WINTER«
BEMERKUNG ÜBER REINHOLD EWALD.
Seine holzgeschnitzte oder gemalte Madonna
sah der gläubige Gotiker gewiß nicht mit
den Augen des Schönheitssuchers an; er hatte
vor ihr die vertrauende Andacht des Beters
und die Gewähr eines besseren Himmels als
Nachfolge des mühereichen Erdendaseins. Viel-
leicht sah er sie überhaupt nicht, sondern dar-
über hinweg als einer sinnbildlichen Leiblichkeit
für sein Erlösungsbedürfnis. Wir aber sehen
diese alten Werke mit Augen an, am liebsten
die schon halb zerbröckelten, wir erfassen sie mit
Diesseitsorganen. Nicht die Gnadenbringerin
und nicht die Fürbitterin beim letzten Tag sehen
wir darin, sondern schönes Bildwerk und herz-
erfreuende Malerei — und genießen die sehn-
süchtigen Gefühle mit, daß es mit der Andacht
des Gotikers vorbei sei, daß man haben möchte,
was man nicht mehr haben kann, daß man
geplagt sei und das Haupt hinlegen will, und
kosten dazu noch eine Regung von Gewissen
aus. So anziehende Beigefühle haben einige neue
Maler veranlaßt, wieder Madonnen zu malen und
Heiligengeschichten vorzutragen, die alte Sache
verkleidet mit den Mitteln des neuen Zeitalters,
und eine Darstellung der Hemmungswünsche,
die im sausenden Ablauf der Dinge auftauchen,
zu riskieren. Untergemischt ist etwas Vor-
beischielen an der Gegenwart, etwas ro-
mantisches Sichhinausstehlen, manchmal auch
Heuchelei. Die Werke dieser Maler schwanken
zwischen einem „De profundis" und dem Alt-
jungfernkitsch und ihre Schöpfer verdienen oft
unser Mitleid. Wir bejahen sie zögernd und un-
ter Vorbehalten, und vergessen schwer, daß es
nur interessante Halbmenschen unsererZeit sind.
Was Reinhold Ewald, den Hanauer Maler,
angeht, so gehört er nicht zu ihnen. Wo in
seinem Werk eine Frau und ein Kind beisam-
men sind, ist es keine Madonna, sondern
schlechtweg Frau und Kind miteinander, ohne
jeden altertümelnden Beigeschmack, Frau und
Kind unserer nächsten gegenwärtigen Beteili-
XXVI. Januar 1923. 1