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Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Hrsg.]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 1): Denkmäler aus alter Zeit — 1852

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https://doi.org/10.11588/diglit.3501#0151

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Der Tempel von Girscheh in iMien.

Girscheh oder Gerf-FIussein, wie einige Reisende es nennen, ist ein kleines Dorf am linken Nilufer
in dem Theile von Unternubien, den die alten Geographen Dodecaschoenum nennen. Dieser Ort hatte einst
bei den Aegyptern denselben Namen wie Memphis, man nannte ihn Phthahei oder Typhthah, d. i. Wohnung
des Phthah, der hier verehrten Gottheit, die die Tutzis der Griechen zu repräsentiren scheint. Von der
alten Stadt ist nichts als ein alter Felstempel übrig.

Der Tempel von Girscheh ist ein sogenanntes Halb-Speos, dessen eine Hälfte durch Excavation des
Felsen, die andere durch einen An- oder Vorbau erhalten worden ist; der erste und älteste und für den
Cultus nothwendigste Theil ist in dem Kalkfelsen ausgehöhlt, der sich dreihundert Schritt vom Nilufer
erhebt, der neueste Theil, der den Tempelvorhof und die Propylaeen umfasst, ist aus Sandstein erbaut.
Am Fuss des Berges dehnt sich nach dem Ufer eine Sandebene aus, dort sieht man noch verstümmelte
Statuen und Ueberbleibsel von Sphinxen, die zwischen ihren Vorderfüssen kleine Statuen halten, die den
Colossen im Tempel gleichen, und einer Treppe oder einem Dromos anzugehören scheinen, der vom Fuss
des Berges bis zu dem Tempel führte. Dem eigentlichen Speos ging ein Propylon voraus, das durch
einen Vorhof mit Peristyl sich mit dem Felstempel verband. Die Pylonen sind heute bis auf ihre Basis
zerstört; von dem Porticus des Vorhofes bestehen noch die vier ersten Säulen der Vorhalle; sie sind
kurz und gedrungen, die beiden mittleren Säulen haben Capitelle, die nach der aufgeblühten Lotusblume,
die beiden äusseren Säulen solche, die nach der noch nicht erschlossenen Lotosknospe gebildet sind.
Die vier Pfeiler an jeder Seite, welche die Decken der beiden Seiten-Porticus des Tempel-Vorhofs stützten,
sind mit colossalen Statuen verbunden, die mit einem einfachen Schurz bekleidet die gewöhnliche ägyptische
Kopfbedeckung mit dem Uranus tragen; in der rechten Hand halten sie die Geissei, das gewöhnliche
Symbol des Osiris, der hier unter den Gesichtszügen Ramses des Grossen dargestellt ist. Dieser ganze
Theil des Denkmals ist aus Sandstein erbaut und jetzt halb zerstört; er geht dem Tempel im engeren
Sinne, der aus dem Felsen ausgehöhlt ist, voran. Man erkennt nur noch einige Spuren von den histori-
schen Basreliefs, die seine Fagade schmückten. Mit ihnen ist vielleicht ein wichtiges Blatt aus der
Geschichte des zweiten Ramses auf immer verloren gegangen; die Natur des Steins hat dazu eben so
viel beigetragen als die Hand der Menschen.

Pronaos, Naos, Sekos oder Sanctuarium und die Seitenkammern des Naos sind aus dem Felsen gehauen.
Die Decke des Pronaos wird an jeder Seite durch drei mächtige viereckige Pfeiler gestützt, vor deren
jedem und mit ihm verbunden eine etwa 20 Fuss hohe Colossalstatue auf 3 Fuss hohem Sockel steht.
Der ganze Habitus derselben ist plump und gleicht den rohen Entwürfen einer erst beginnenden Kunst.
Hinter und in den Intervallen dieser Pfeiler sind an jeder Seite in den Seitenwänden vier Nischen oder
Capellen angebracht, in deren jeder drei aufrecht stehende Figuren in vollem Relief grob sculpirt sind,
die die drei grossen Gottheiten dieses Tempels darstellen: Phthah, Hathor, sein Weib, und in der Mitte
von ihnen Ramses, einer der tausend Namen des Phre*). Die Decke des Naos wird durch zwei viereckige
Pfeiler gestützt; an jeder Seite desselben befindet sich noch eine Kammer, die keine Sculpturen aufweist;
geradeaus gelangt man in den Sekos, an dessen Hinterwand vier sitzende Statuen über Menschengrösse
hoch sich befinden. Vor denselben steht isolirt ein Altar, der keine Ornamente und Inschriften aufweist,
die vielleicht zerstört sind, wie man denn barbarischer Weise alle Basreliefs der Wände verstümmelt hat.
Dieser Altar, der aus dem Felsen gehauen ist, war wahrscheinlich als Postament für die heilige Barke
oder Bari des Gottes Phthah bestimmt. Die vier Statuen des Sekos stellen in ziemlich guter Sculptur
Phre, Ramses, Phthah und Hathor vor. Zur Seite dieses Sekos befinden sich noch zwei mit demselben
nicht communicirende und vom Naos aus zugängliche Kammern, die keine Sculpturen und Bilder zeigen.
Dieses Speos, das durch die Strenge seines Styles und durch den imposanten Anblick seiner Architectur
so merkwürdig ist, war einst mit glänzenden Farben bemalt, die sämmtlich unter einer dicken Russ- und
Staublage verschwunden sind. Es empfängt kein anderes Licht als durch die Eingangsthür, was noch den
Eindruck, den es macht, verstärkt**). Das schwache Licht, das in seinen innern Räumen herrscht, lässt
kaum die Sculpturen unterscheiden, aber das draussen von dem grellen Licht und der grossen Hitze senk-
rechter Sonnenstrahlen ermüdete Auge ruht gern in seinem Dunkel aus.

Der Anblick dieses Tempels hat etwas Ursprüngliches, das dem heiligen Dunkel der Vergangenheit

*) Ramses ist abwechselnd zwischen zwei verschiedenen Gottheiten, einer männlichen und einer weiblichen, placirt.
**) Man weiss nichts Bestimmtes über die Art und Weise, wie die Aegypter ihre Tempel bei religiösen Festen erleuchteten,
aber es ist wahrscheinlich, dass dies mit Becken geschah, worin Oel oder Wachs brannte. Dergleichen Gefässe machen
in allen Basreliefs immer einen Theil der Opfergaben aus, die den Göttern dargebracht wurden.

Denkmäler der Baukunst. LX. Lieferung.
 
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