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Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Editor]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 1): Denkmäler aus alter Zeit — 1852

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https://doi.org/10.11588/diglit.3501#0235

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Griechische Säulenordnungen.

Säulenordnungen nennt man die Zusammenstellung von Säulen und Pflastern mit ihren Geballten,
wie dieselbe in der Bauweise der alten Griechen und Römer gebräuchlich ist. Das Wort Säulenordnung
gehört erst der neueren Zeit an und entstand in einer Zeit, wo man mit dem Wiederaufleben antiker
Kunsttradition die äusseren und inneren Wände und Decken der (»ebäude, abgesehen von aller Construction
derselben, mit den Kunstformen antiker Architectur decorirte, und so hat denn der Ausdruck „Säulenordnung"
von der Epoche der Renaissance her den Beigeschmack eines blos Decorativen behalten. Bezeichnen wir
damit die antike Bauweise, so würden wir richtiger dieses Wort oder „Baustyl" für Säulenordnung zu
gebrauchen haben, wie denn auch Vitruv, die noch immer reichste, wenn auch durch Unkenntnis« und
Missverständniss ihres Autors sehr getrübte Quelle antiker Kunsttradition, dafür immer das Wort ratio,
zuweilen auch genus gebraucht.

Man spricht gewöhnlich von vier Säulenordnungen, von der dorischen, ionischen, korinthischen und
toscanischen, weil Vitruv im dritten seiner zehn Bücher de architeotura diese vier Bauweisen aufzählt.
Die letztgenannte, die ratio tuscanica des Vitruv, unterscheidet sich von den andern dadurch wesentlich,
dass bei ihr steinerne Säulen mit hölzernen Epistylien, hölzernen Balken und dergleichen vortretenden
Sparren (mutuli) erscheinen, welche letztere die Traufe oder das stillicidium bilden, die übrigen drei rationes
dagegen immer nur steinerne Gebälke und steinerne Traufgesimse aufweisen. Die toscanische Säule zeigt
sich aber als eine Verbindung des ionischen Säulenschaftes mit einem ionisirten dorischen Capitelle und
einer Basis, die von der ionischen Säulenbasis den torus, oder genauer bezeichnet die Torenspira mit der
darunter liegenden Plinthe entlehnt hat.

Wenn wir nun von griechischen Säulenordnungen oder Bauweisen reden, so hätten wir also nur
deren drei zu betrachten, die dorische, die ionische und die korinthische, zu denen noch als vierte die
attische käme, die uns erst C. Bötticher in seiner Tektonik der Hellenen vor Kurzem kennen und erkennen
gelehrt; ihm verdanken wir überhaupt erst das Verständniss des Wesens antiker Architectur und ihrer
Kunstformen, und mit seiner Herstellung der Tradition in ihrer Ursprünglichkeit haben wir eine bis dahin
ungeahnte Kritik der von Vitruv überlieferten meist un- oder misverstandenen gewonnen, die durch diese
Kritik erst jetzt für uns nutz- und fruchtbar wird. So können wir denn sagen, dass alle tiefere und
richtigere Erkenntniss antiker Baukunst erst seit Böttichers Tektonik datire und dass Jeder, der von jener
etwas wissen wolle, auf dieses Autors tiefeindringende Forschungen zurückgehen müsse. Die überraschen-
den und merkwürdigen Resultate derselben greifen aber weiter und beschränken sich nicht auf den engen
Kreis antiker Architectur, und wie jede spätere Kunst sich auf der Tradition der früheren auferbaut und
aus ihr sich fortentwickelt, so wird uns erst durch die richtige Erkenntniss des Wesens der antiken
Bauweisen die Baukunst des Mittelalters und die ihr folgende klar und verständlich.*) Die Griechen
haben aber für ihr sehr beschränktes constructives System eine Formensprache erfunden, die auch auf
jedes andere constructive System zur Erbildung baulicher Kunstformen anwendbar ist; diese Formensprache
ist eine allgemein gültige, eine ,,weltgültige", wie Bötticher sagt, und welcher Architect sie versteht, der
wird bei dem notliwendig vorauszusetzenden künstlerischen Vermögen jede bauliche Construction, ohne
gerade die antiken Kunstformen und ihre Proportionen nachahmen zu dürfen, in griechischem Sinne
kunstgemäss ausbilden, den constructiven Gliedern jedes baulichen Systems die ihnen zukommende und
angemessene und deshalb „ethische" Kunstform zu geben, und diese Glieder endlich zu einem baulichen
Organismus zu verbinden verstehen.

Sämmtliche Baustyle drehen sich in ihrem letzten Grunde um die Construction der Decke. Das
bauliche System der Griechen beruht nun anf die Herstellung einer monumentalen Decke mittelst mono-
lither Balken mit darüber gelegten steinernen Decktafeln oder Kalymmatien. Es muss bemerkt werden,
dass diese steinerne Decke nur dem Tempel zukam, ein Vorrecht, eine Pronomia des Gotteshauses, des
heiligen Hauses überhaupt war, und dass das Wohnhaus des Bürgers eine solche Decke nicht haben
durfte."') Die steinernen Decktafeln haben an ihrer unteren sichtbar bleibenden Fläche gewöhnlich sym-
metrisch vertheilte rechtwinklige viereckige vertiefte Felder, um die Decke selber leichter zu machen und
ihren Druck auf die Balken zu verringern; durch diese Vertiefungen wird jede dieser Tafeln zu einem
Phatnoma, und eine solche Decke wurde daher bei den Griechen, da sie aus mehreren solcher Decktafeln
bestand, mit der Mehrheit dieses Wortes, mit cpuTrcofiaru, bei den Römern mit lacunaria bezeichnet. Aus
der Nachahmung solcher Decken in Holz zur Zeit der Renaissance, wo diese Phatnomata aus Kästchen

") M. s. Böttichers ersten Exciirs seiner Tektonik, der das Verhältniss der mittelalterlichen Architectur zur antiken behandelt.
**) M. s. Böttichers Programm zum Schinkelfeste 1848: „lieber das Heilige und Profane in der Baukunst der Hellenen."

Denkmäler der Baukunst. GL. Lieferung. ©riectyifctje ©d'ulenortmungcn. 1.
 
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