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Gailhabaud, Jules; Kugler, Franz [Hrsg.]
Jules Gailhabaud's Denkmäler der Baukunst (Band 1): Denkmäler aus alter Zeit — 1852

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https://doi.org/10.11588/diglit.3501#0308

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Der Tempel der Vesta zu Tivoli.

Tivoli, das alte so oft von den Dichtern besungene Tibur, dessen Ursprung Plinius *) noch vor die
Gründung Roms setzt und das Horaz und Virgil als eine griechische Colonie **) betrachten, liegt achtzehn
Miglien, oder etwa 3| deutsche Meilen, nordöstlich von Rom auf dem westlichen Abhänge des Apennin
und an den steilen Ufern des Teverone, des alten Anio, an der Stelle, wo sich dieser Fluss in zahlreichen
Cascaden von dem Gebirge herabstürzt, um das Niveau der Campagna Latiums zu erreichen. Diese durch
ihre Lage berühmte Stadt, die eine der malerischsten der Erde ist, ist es nicht weniger durch ihre schönen
Ruinen, die man daselbst überall sieht. Unter den Ueberresten von Tempeln, Gräbern, Palästen und Villen
zeichnet sich ein rundes Gebäude aus, das auf dem höchsten Punkte nahe beim ersten Fall des Anio liegt,
von dem aus man die Ansicht genommen hat, die diesen Aufsatz begleitet. Dieses Bauwerk, mit dem
Palladio und Serlio zuerst bekannt gemacht haben, wird gewöhnlich der Tempel der Sibylle genannt,
dürfte aber wohl richtiger der Tempel der Vesta heissen.

Ueber seine Bestimmung sind sehr verschiedene Meinungen aufgestellt worden: Cluvier ***) glaubt,
dass es ein Tempel und dem Localgotte und mythischen Gründer Tiburs Tibumus geweiht gewesen sei.
Andere haben aus ihm das Grab des Lucius Gallius gemacht, weil der Ueberrest einer an demselben be-
findlichen Inschrift diesen Namen aufweist; es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass es als Grabmal gedient
habe. Andere haben in ihm einen Tempel gesehen, der der Sibylle Albunea geweiht gewesen, der von
Augustus wieder erbaut und von alten Schriftstellern beschrieben worden. Ein Tempel der Sibylle schmückte
allerdings die Stadt Tibur, aber er lag an einer anderen Stelle. Noch andere Schriftsteller haben in diesen
Ruinen die Ueberreste des Tempels des Hercules erblicken wollen, der der Schutzgott der Stadt war; aber
dies würde gegen die Vorschriften Vitruv's Verstössen, der da sagt, dass die Tempel der Minerva, des
Mars und des Hercules von dorischer Ordnung sein müssten; „Minervae, Marti et HercuU aedes doricae
fient." ****) Der Herculestempel von Tivoli hatte im Alterthum sehr grosse AVichtigkeit; nach Juvenal
rivalisirte er mit dem der Fortuna zu Praeneste, dem heutigen Palestrina; man hatte daneben eine Bibliothek,
ein Schatzhaus, Portiken und andere ansehnliche Bauten errichtet, die nicht auf dem engen Hügel Platz
gefunden haben würden, der die erste Cascade des Anio überragt.

Die griechische Hestia oder die römische Vesta f) wird in der Mythologie der Alten eine Tochter der
Rhea und des Kronos oder Saturn genannt; sie ist die Personification des ewigen und unvergänglichen in
Mitten der Welt gegründeten Feuers, um das sich nach der Vorstellung der Alten das ganze All der Natur
herum geordnet habe, das von ihm belebt und erhalten, aber auch von ihm beim endlichen Untergang aller
Dinge werde vernichtet werden; Hestia ist mithin der ganzen Welt und aller Dinge in ihr Uranfang, Mittel-
punkt, Zusammenhalt und Ende. Dieser Gedanke wiederholt sich bei den Hellenen für das ganze All der
Natur, für den Himmel, wo die Götter wohnen, für die Ordnung der Dinge auf der Erde, für die ganze
hellenische Menschenwelt, für jeden einzelnen Stamm, jede Phyle derselben, für jede Stadt und jede Familie;
sie ist allen Gesetzten Zuerstgesetztes, das Urgesetzte überhaupt, woher vielleicht ihr Name, tt) — Als
Zeus nach dem Sturze der Titanenherrschaft den Göttern die Loose vertheilte, so geht die Sage, habe er
zuerst der treuen Hestia freigestellt dasjenige zu wählen, was sie wünsche. Sie aber habe um die ewige
Jungfräulichkeit, die Parthenia gebeten und um die Erstlingsopfer der Menschen. Daher sei es Sitte, der
Hestia die Erstlinge darzubringen und ihr auch vor allen Göttern zuerst zu opfern. Und dies war der
Ritus bei allen Hellenischen Opfern sowohl im Tempel wie im Hause, dass man mit der Hestia begann
selbst vor dem Zeus, und ihr stets die Erstlinge alles durch göttlichen Segen gewonnenen Ertrages dar-
brachte. — Da der Tempel seinen räumlichen wie geistigen Mittelpunkt im Altare vor der Statue des
Tempelgottes hatte, wie des Hauses Mittelpunkt der Heerd (tgia peGopcpulog) war, wo die Nahrung bereitet
wurde, so wurden beide, Altar wie Heerd, bei den Griechen mit dem Namen Hestia belegt, und waren
beide gleich heilig und unverletzlich; beide hatten das Asylrecht. — Der Hestiacultus wurde bei den
Römern durch Numa eingeführt; dieser habe, erzählt Plutarch, den Heerd des ewigen Feuers mit dem Baue

•) Plinius, B. XXVI, c. 49.
**) Virgils Aeneis, B. VII. V. 671. Horaz. B. II. Ode 6.
***) Cluvier, Italia antiqua.
*'**) Vitruv, l.-I, c. 11.

t) Mit dem Wesen und dem Cultus der Hellenischen Hestia hat uns C. Bötticlier in einem so eben bei Gelegenheit der Ge-
burtstagsfeier Schinkel's erlassenen Festprogramme : „Andeutungen über das Heilige und Profane in der Baukunst der Hellenen"
(Berlin 1846), näher bekannt gemacht; diesen haben wir die hier mitgetheilten über die Hestia entnommen. L. L.

ff) Von ZoTTjut. Cf. Etym. God. 213, 32.
Denkmäler der Baukunst. LXXII. Lieferung.
 
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