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Herma nn: Verhältniss der Philosophie zur Religion.

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aufhört? Wer kann für diesen dunkeln Hintergrund die Gränzlinie
zwischen falschem und wahrem Glauben, Religion und Aberglauben
anders ziehen, als der von dem Herrn Verf. zurückgewiesene \ er-
stand? Das Wahre und Falsche, Haltbare und Unhaltbare unter-
scheidet nicht der Glaube, sondern die Erkenntniss. Sagt doch der
Stifter des Christenthums selbst, das sei das Leben, dass man den
allein wahren Gott erkenne und denjenigen, den dieser gesandt
habe. Es wird also selbst vom Christenthum die Erhebung des
blinden Glaubens zum sehenden oder die Erkenntniss verlangt.
Wenn der Verstand in der Religion nichts beweisen kann,
wenn die Vernunft nur dazu da ist, uns den „dunkeln Hinter-
grund“, die Gränze zu zeigen, wo all’ ihr Wissen aufhört und das
Glauben anfängt, dann ist allerdings der „innerste Lebensnerv“ der
Philosophie zerschnitten, weil sie ihren eigenen Begriff nie zu ver-
wirklichen im Stande ist. Die „Beziehung des menschlichen Gei-
stes zu dem Uebersinnlichen oder den letzten Fragen der Welt“
wird S. 54 Religion genannt, während die philosophische Methode
sich „an der konkreten Natur des Stoffes schulen“ und „mit
allseitig offenem Auge die Kunst des Denkens“ handhaben soll.
Der Stoff des „philosophischen Erkennens“ ist nicht jenes „höchste
und für den Verstand unerreichbare Uebersinnliche.“ Für die
Philosophie wird kein anderer Stoff erkennbar, als „die geordnete
Gesammtheit dessen, was in der Welt und im Leben vor uns er-
scheint, in wie fern es ein geistig Bedeutsames und durch reine
Begriffe von uns zu Erfassendes ist.“
Kann aber das Denken auf irgend etwas, was denkbar ist,
verzichten, oder kann das Undenkbare Gegenstand des Glaubens
werden? Ist nicht die Philosophie von ihrer ersten Entwickelung
bis zur Gegenwart um so mehr Wissenschaft jeder Zeit gewesen,
je klarer sie erkannt hat, dass ihre Aufgabe ist, sich, als die Wis-
senschaft von den letzten Gründen alles Seins und Denkens, jedes
Denkstoffes zu bemächtigen? Hat sie nicht jeder Zeit, wo man den
Unterschied zwischen Sinnlichem und Uebersinnlichem zu machen
anfing, erkannt, dass gerade der bedeutendste Stoff des philoso-
phischen Denkens derjenige ist, welchen der Herr Verf. aus dem
Gebiete der Philosophie entfernen und nur der Religion zuweisen
will, jenes „höchste Uebersinnliche“? Muss nicht die Philosophie,
als die Wissenschaft der obersten Grundsätze aller Erkenntniss,
wenn man der Religion das „Uebersinnliche“ als alleiniges Gebiet
anweist, fragen, ob es denn überhaupt ein Uebersinnliches gebe und
was man sich unter dem Uebersinnlichen vorzustellen habe? Kann
man einer „Kunst des Denkens“ vorschreiben: Bis hierher darfst
du denken und weiter nicht? Wie können, wie der Herr Verfasser
S. 54 sagt, die „Lehren der Philosophie“ theils „die höchsten Spitzen,
theils auch die tiefsten und innersten Quellen der ganzen Richtun-
gen und Strebungen der Zeit, in welcher sie wurzeln“, sein, was
sie auch wirklich sind und sein müssen, wenn gerade das Höchste
 
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