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JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Aus Tibur und Teos. Eine Auswahl lyrischer Gedichte von Horaz,
Anakreon, Caiull, Sappho nebst einigen andern poetischen
Stücken in deutscher Nachdichtung von II einri ch Stadel-
mann. Halle, Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses.
1868. 106 S. in 12.
Wir haben schon früher einmal Veranlassung gehabt, ähn-
licher Versuche des Verfassers in der Uebertragung alt-zchristlicher
Hymnen in diesen Blättern zu gedenken: s. Jahrgg. 1865. S. 399 ff.
Die dort hervorgehobenen Vorzüge dieser Uebertragung treten noch
mehr in der vorliegenden Schrift hervor, welche auf einem andern
Gebiete das Gleiche durchzuführen unternommen hat. Denn es sind,
dieses Mal die gefeiertsten Dichter der vorchristlichen Zeit, aus
deren Gesängen einzelne ausgewählte Lieder in einer deutschen Be-
arbeitung vorgelegt werden. Es sind diess freilich keine Ueber-
setzungen der Art, wie sie Sonst vielfach vorkommen, veranstaltet,
um bei der Lectüre alter Dichter als ein Hülfsmittel des leichteren
und bequemeren Verstehens der alten Texte zu dienen, und darum
möglichst getreu an die einzelnen Worte des Originals sich an-
schliessend, auch das antike Metrum möglichst nachbildend, da-
durch aber oft ungeniessbar, wenn man die Anforderungen eines
guten deutschen Ausdruckes, deutscher Redeweise und noch gar
einer wahrhaft poetischen Fassung auf dieselben anwenden will:
solche Uebcrsetzungen werden am wenigsten geeignet sein, deut-
schen Lesern, die das fremde Original nicht verstehen, einen Be-
griff von den antiken Liedern, deren wahren Sinn und Geist zu
geben. An eine derartige Uebersetzung darf man aber hier nicht
denken: denn der Verfasser hat sich gerade die Aufgabe gestellt,
die alten Dichtungen uns in der Weise nahe zu bringen, dass er
dieselben in eine moderne Form eingekleidet hat, die aber darum
doch Wesen und Charakter des alten Liedes erkennen lässt, und
dasselbe auf solche Weise unserer Auffassungs- und Anschauungs-
weise näher bringt, so dass auch der des Lateinischen oder Grie-
chischen nicht Kundige sich eine richtige Idee und Vorstellung des
alten Liedes wie des Dichters selbst zu bilden vermag und dann
auch den Charakter dieser alten Poesie, von der er so Manches
vernommen, zu würdigen versteht. Dass diese Aufgabe keine ge-
ringe ist, bedarf wohl kaum einer näheren Auseinandersetzung. Der
Verf., der sich auch als Meister in der Uebertragung deutscher Ge-
dichte in Lateinische Verse (z. B. A. W. Schlegel’s berühmte Elegie
auf Rom) bewährt hat, gehört zu den wenigen Meistern deutschen
LXI. J«hrg. 4. Heft. 18
JAHRBÜCHER DER LITERATUR.
Aus Tibur und Teos. Eine Auswahl lyrischer Gedichte von Horaz,
Anakreon, Caiull, Sappho nebst einigen andern poetischen
Stücken in deutscher Nachdichtung von II einri ch Stadel-
mann. Halle, Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses.
1868. 106 S. in 12.
Wir haben schon früher einmal Veranlassung gehabt, ähn-
licher Versuche des Verfassers in der Uebertragung alt-zchristlicher
Hymnen in diesen Blättern zu gedenken: s. Jahrgg. 1865. S. 399 ff.
Die dort hervorgehobenen Vorzüge dieser Uebertragung treten noch
mehr in der vorliegenden Schrift hervor, welche auf einem andern
Gebiete das Gleiche durchzuführen unternommen hat. Denn es sind,
dieses Mal die gefeiertsten Dichter der vorchristlichen Zeit, aus
deren Gesängen einzelne ausgewählte Lieder in einer deutschen Be-
arbeitung vorgelegt werden. Es sind diess freilich keine Ueber-
setzungen der Art, wie sie Sonst vielfach vorkommen, veranstaltet,
um bei der Lectüre alter Dichter als ein Hülfsmittel des leichteren
und bequemeren Verstehens der alten Texte zu dienen, und darum
möglichst getreu an die einzelnen Worte des Originals sich an-
schliessend, auch das antike Metrum möglichst nachbildend, da-
durch aber oft ungeniessbar, wenn man die Anforderungen eines
guten deutschen Ausdruckes, deutscher Redeweise und noch gar
einer wahrhaft poetischen Fassung auf dieselben anwenden will:
solche Uebcrsetzungen werden am wenigsten geeignet sein, deut-
schen Lesern, die das fremde Original nicht verstehen, einen Be-
griff von den antiken Liedern, deren wahren Sinn und Geist zu
geben. An eine derartige Uebersetzung darf man aber hier nicht
denken: denn der Verfasser hat sich gerade die Aufgabe gestellt,
die alten Dichtungen uns in der Weise nahe zu bringen, dass er
dieselben in eine moderne Form eingekleidet hat, die aber darum
doch Wesen und Charakter des alten Liedes erkennen lässt, und
dasselbe auf solche Weise unserer Auffassungs- und Anschauungs-
weise näher bringt, so dass auch der des Lateinischen oder Grie-
chischen nicht Kundige sich eine richtige Idee und Vorstellung des
alten Liedes wie des Dichters selbst zu bilden vermag und dann
auch den Charakter dieser alten Poesie, von der er so Manches
vernommen, zu würdigen versteht. Dass diese Aufgabe keine ge-
ringe ist, bedarf wohl kaum einer näheren Auseinandersetzung. Der
Verf., der sich auch als Meister in der Uebertragung deutscher Ge-
dichte in Lateinische Verse (z. B. A. W. Schlegel’s berühmte Elegie
auf Rom) bewährt hat, gehört zu den wenigen Meistern deutschen
LXI. J«hrg. 4. Heft. 18