Nr. 22.
HEIDELBERGER
1868.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR
Tyler: Ueber die Urgeschichte der Menschheit.
(Schluss.)
Aber die Uebereinstimraungen zwischen Garcilaso’s Sonnenjung-
frauen und Plutarch’s vestalischen Jungfrauen erstrecken sich noch
weiter. Man muthet uns nicht blos zu -zu glauben, dass es Sonnen-
jungfrauen gab, dass sie ein heiliges Feuer bewahrten, dessen Er-
löschen ein übles Omen war und dass dieses Feuer durch die in
einem Hohlspiegel conceutrirten Sonnenstrahlen entzündet wurde,
man erzählt uns auch, dass in Cuzco wie in Rom die unkeusch
erfundene Jungfrau die besondere Strafe traf, lebendig begraben zu
werden. Das ist wirklich zu viel. Was auch die wahre thatsäch-
liche Grundlage der Berichte über die Sonnenjungfrauen und das
Raymifest sein möge, so dünkt es Tyler doch sehr wahrscheinlich,
dass die angeführten Nebenumstände theilweise oder ganz keines-
wegs Geschichte, sondern die Ausführung einer Idee sind, wovon
Garcilaso selber den Grundton angibt, indem er von diesem näm-
lichen Raymifeste sagt, dass es von den Incas gefeiert wurde »in
der Stadt Cuzco, die ein zweites Rom war.« Wer mit den
alten Chronisten des spanischen Amerika vertraut ist, weiss wie
die ganze Rasse von einer Art Leidenschaft besessen war, die Ge-
schichten der alten Welt in neuer Gestalt mit einer Wohnstätte
und einem Namen in Amerika zu Tage zu fördern. Gegen die
abstrakte Möglichkeit der Geschichte Garcilaso’s vom Entzünden
des heiligen Feuers mit Hohlspiegeln lässt sich freilich ebensowenig
sagen wie gegen Plutarch’s Erzählung. Aber bei Festus findet sich
ein anderer Bericht über das Wiederanzünden des erloschenen Feuers
im Vestatempel, zu dessen Gunsten jede Analogie spricht, was das
Verfahren bei Anzündung von heiligem Feuer unter unserer indo-
europäischen Rasse sowohl in Asien wie in Europa anlangt, —
Hinsichtlich des sogenannten Notfeuers bemerkt Tyler, es scheine
dass die morgenländische und abendländische Kirche in ihrer Be-
handlung des alten Ritus weit von einander abweichen. Die abend-
ländische Geistlichkeit missbilligte das Notfeuer und unterdrückte
es so weit sie dies vermochte; in Russland aber war es nicht nur
erlaubt, sondern wurde auch (und wird wahrscheinlich noch) unter
kirchlicher Sanction veranstaltet, indem der Priester die Haupt-
person bei derCeremonie war. Dieser interessante Umstand scheint
Grimm und andern Forschern nicht bekannt gewesen zu sein, und
er ist um so merkwürdiger, als er auch zeigt, dass das uralte
LXL Jahrg. 5, Heft, 22
HEIDELBERGER
1868.
JAHRBÜCHER DER LITERATUR
Tyler: Ueber die Urgeschichte der Menschheit.
(Schluss.)
Aber die Uebereinstimraungen zwischen Garcilaso’s Sonnenjung-
frauen und Plutarch’s vestalischen Jungfrauen erstrecken sich noch
weiter. Man muthet uns nicht blos zu -zu glauben, dass es Sonnen-
jungfrauen gab, dass sie ein heiliges Feuer bewahrten, dessen Er-
löschen ein übles Omen war und dass dieses Feuer durch die in
einem Hohlspiegel conceutrirten Sonnenstrahlen entzündet wurde,
man erzählt uns auch, dass in Cuzco wie in Rom die unkeusch
erfundene Jungfrau die besondere Strafe traf, lebendig begraben zu
werden. Das ist wirklich zu viel. Was auch die wahre thatsäch-
liche Grundlage der Berichte über die Sonnenjungfrauen und das
Raymifest sein möge, so dünkt es Tyler doch sehr wahrscheinlich,
dass die angeführten Nebenumstände theilweise oder ganz keines-
wegs Geschichte, sondern die Ausführung einer Idee sind, wovon
Garcilaso selber den Grundton angibt, indem er von diesem näm-
lichen Raymifeste sagt, dass es von den Incas gefeiert wurde »in
der Stadt Cuzco, die ein zweites Rom war.« Wer mit den
alten Chronisten des spanischen Amerika vertraut ist, weiss wie
die ganze Rasse von einer Art Leidenschaft besessen war, die Ge-
schichten der alten Welt in neuer Gestalt mit einer Wohnstätte
und einem Namen in Amerika zu Tage zu fördern. Gegen die
abstrakte Möglichkeit der Geschichte Garcilaso’s vom Entzünden
des heiligen Feuers mit Hohlspiegeln lässt sich freilich ebensowenig
sagen wie gegen Plutarch’s Erzählung. Aber bei Festus findet sich
ein anderer Bericht über das Wiederanzünden des erloschenen Feuers
im Vestatempel, zu dessen Gunsten jede Analogie spricht, was das
Verfahren bei Anzündung von heiligem Feuer unter unserer indo-
europäischen Rasse sowohl in Asien wie in Europa anlangt, —
Hinsichtlich des sogenannten Notfeuers bemerkt Tyler, es scheine
dass die morgenländische und abendländische Kirche in ihrer Be-
handlung des alten Ritus weit von einander abweichen. Die abend-
ländische Geistlichkeit missbilligte das Notfeuer und unterdrückte
es so weit sie dies vermochte; in Russland aber war es nicht nur
erlaubt, sondern wurde auch (und wird wahrscheinlich noch) unter
kirchlicher Sanction veranstaltet, indem der Priester die Haupt-
person bei derCeremonie war. Dieser interessante Umstand scheint
Grimm und andern Forschern nicht bekannt gewesen zu sein, und
er ist um so merkwürdiger, als er auch zeigt, dass das uralte
LXL Jahrg. 5, Heft, 22