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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1901)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0029

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rechnen hat jeder Mensch in irgend einer Art Schule zu lernen; alles übrige
empfangen die Kinder der nicht besitzenden Klassen im Umgang mit den be-
sitzenden, als Diener und Arbeiter im Hause (nicht genauer, aber verständlicher
sage ich, in der Familie) ihrer Brotgcber. Jm Leben soll das Volk lcrnen, von
Thatsachen der Gcschichte^ und Natur so uiel lerncn, wie im Leben ivirklich in
seinen Gesichtskreis tritt: die deutschen Kaiser und die preußischen Könige und
die Elemente der jetzigen Chemie der Neihe nach herschnurren nützt nichts, iveil
auch ein Pagagei es zu lernen imstande iväre. Jst dies richtig, so muß ein
Adel oder eine §evtr^ da sein, ivohlivollend und ivohlhabcnd genug, um Diener
und Arbeiter dauernd in ihre Häuser aufzunehmen: so muß eine Geistlichkcit
da sein, ivelche überiviegend aus den besten Geschlechtern hervorgeht, deren
Glieder um Gottes, nicht um des Gehaltes ivillen Geistliche sind, cine Geistlich-
keit (ein schöner Titel), welche des Volks mit ihm lebendc Leiterin und Be-
raterin ist, noch besser, welche dem Volke vorlebt, eine Geistlichkeit, uon der
jeder Arbeiter jeden Augenblick weiß, daß sie übcr ihm wie neben ihm steht.
Es war eine entzückende Zeit des Mittelalters, als alles Lernen unter Meistern
geschah. Was dem Menschen gedeihen soll, kann meines Erachtcns nur vom
Menschen selbst ausgehn und von der Gliederung von Menschen, nicht aber von
dem eapnt mortmiia der Menschheit, der Einrichtung, der Jnftitution, am aller-
wenigsten von dem Extrakte des Extraktes, der Konstitution. Jch möchte ein-
mal Neigungen früherer Jahre nachgeben, und mich ausdrückcn alS sei ich ein
Philosoph: die Formel für das in diesem Teile der Geschichte wirksame Gesetz
jst: Menschen müssen wirken, als seien sie Jnstitutionen, Jnstitutionen, als seien
sie Personen.

Nichts ist gut, was ein Gutes am Existieren hindcrt: denn allc Güter
sind Organe desselben Ganzen und darum niemals wider einander.

Daß unscre Zeitgenossen dem Nachdenkcn großcr Gedankcn möglichst aus
dem Wege gehn, dafür aber biographischen Untersuchungon vielen Fleiß ividmcn,
kommt ivohl daher, daß die Möglichkcit altgedachte Gedanken bei uns neu ein-
zubürgern, infolge der durch das Parteitreiben und durch dic Zustände unsercr
Schulen und Universitäten hervorgerufenen Entnervung dcr Nation außcrordent-
lich gering, darum der Versuch, solche Gedanken neu in Umlauf zu setzcn, nicht
sehr praktisch, und dabei doch noch das Bewußtsein vorhandcn ist, daß man
an jcnen alten Schätzen nicht so ganz vorbcigchn dürfe. Große Männer sind
unbequem, weil sie klcine Menschen zwingen, sie anzucrkennen (welche Ancrkcn-
nung durch Haß ebcnso füglich bezeugt wird wie durch Liebe), und sich infolge
dieser Anerkennung irgendwie und irgendwieweit nach ihnen zu ändern: von
großen Männern wissen ist sehr bequem, weil es erlaubt, sich an dcm cigenen,
jenen Größen gewidmeten Fleiße zu weiden und zu spiegeln, und doch ganz so
jämmerlich zu bleiben, wie man ist. Bekanntlich unternimmt der Mensch zehn-
mal lieber eine Wallfahrt, die er mit den Beinen abmachcn kann, als er sich
entschließt, die geringste üble Gewohnheit abzulegen, wozu Willen gehört und
nicht bloß motorische Nerven. Und so ist es auch, wenn dieser Weg von irgend
jemandcm gezeigt wordcn, viel unverfänglicher, an den ausschließlichen Wcrt
irgendwelcher altersgrauen Begebenhcit zu glauben, als sich von der Krast, wclche
in jener Begebenheit zur Geltung gekommcn ist, innerlich umgestaltcn zu lassen.
Nationen können nur frci sein, solange innere Zusammengehörigkeit, also die
Jdce, die Teile zu Gliedern macht. Nur Gliedcrn läßt man zu, sich zu bewegcn,
Aunstwart
 
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