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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 3 (1. Novemberheft 1901)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0124

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Vgraine: Aber warum mußtest du fort?

Tintagiles: Weil die Königin es wollte.

Vgraine: Hat man nicht gesagt, warum sie es wollte? — Jch bin
sicher, man hat mancherlei gesagt. . .

Tintagiles: Jch habe nichts gehört, Schwesterchen.

Igraine: Wenn sie untcr einander sprachen, was sagten sie da?

Tintagiles: Schwesterchen, sie sprachen ganz leise.

Igraine: Die ganze Zeit?

Tintagiles: Die ganze Zeit, Schwester Dgraine, außer wcnn sie mich
anblickten.

Vgraine: Haben sie nicht von der Königin gesprochen?

Tintagiles: Sie haben gesagt, Schwester Vgraine, daß man sie nicht
sehen könnte.

Vgraine: Und die mit dir auf dem Verdeck waren, habcn die nichts
gesagt?

Tintagiles: Sie beschäftigten sich mit dein Wind und dcn Segeln,
Schwester Vgraine.

Vgraine: Ach l . . . Das wundert mich nicht, mein Kind . . .

Tintagiles: Sie haben mich ganz allein gelassen, Schwesterchen.

Vgraine: Hör mich an, Tintagiles, ich will dir sagen, was ich weiß...

Tintagiles: Was weißt du, Schwester Ugraine?

Vgraine: Nicht viel, mein Kind . . . Meine Schwester und ich, wir
schleppen uns hier hin seit unserer Geburt und magen nichts von dem zu sassen,
was hier vorgeht . . . Lange hatte ich wie eine Blinde auf dieser Jnscl gelcbt,
und alles schien mir natürlich . . . Jch sah keine andern Ereignisse, als eincn
Vogel, der flog, ein Blatt, das zittcrte, cine Rose, die sich ösfnete ... Es
herrschte solche Stille, daß eine reife Frucht, die im Parke fiel, die Gcsichtcr an
die Fenster lockte . . . llnd niemand schien etwas zu argwöhnen . . . Abcr
eines Nachts habe ich erfahren, daß noch etwas andres scin mußte . . . Jch
wollte fliehen und ich vermochte es nicht . . . Hast du verstanden, was ich
gesagt habe?

Tintagiles: Ja, ja, Schwesterlcin, ich verstehe alles, was man will...

Vgraine: Nun, sprechen wir nicht mehr von dem, was man nicht
weiß . . . Siehst du dort hinter den toten Bäumen, die den Horizont vcrgiften,
im Grunde des Thales das Schloß?

Tintagiles: Das so schwarz ist, Schwester Igraine?

Vgraine: Es ist wirklich schwarz . . . Es liegt in der tiefsten Runde
der Finsternisse . . . Es muß sich wohl darin leben lassen . . . Man hätte cs
auf den Gipfel der hohen Berge baucn können, die es umgebcn. . . Die Berge
sind blau am Tage . . . Man hätte atmen künnen . . . Man hätte das Meer
gesehen und die Wiesen jenseits der Felsen . . . Aber sie haben vorgezogcn,
es auf den Grund des Thales zu sehen, und selbst die Luft steigt nicht so tief
hinab. . . Es fällt in Trümmern, und niemand achtet desscn. . . Die Manern
zerfallen; man möchte sagen, es löst sich in der Finsternis auf . . . Nur cin
Turm scheint der Zeit zu trotzen . . . Er ist ricsig, und das Haus liegt stets
in seinem Schatten . . .

Tintagiles: Etwas erhellt sich dort, Schwester Dgraine . . . Siehst
du, siehst du die großen roten Fenster? . . .

Vgraine: Es sind die des Turmes, Tintagiles; es sind die einzigcn,
wo du Licht erblicken wirst; dort steht der Thron der Königin.

Aunstwart
 
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