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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1902)
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Batka, Richard: Carmen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0404

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man hal den einheitlichen Grundton in den mannigfaltigen Stim-
mungen, welche die dramatischen Vorgänge verlangen, zu erlauschen
gelernt.

Das allerdings ist richtig, daß man sich an der Seine zunüchst an
diesen Vorgängen stieß, weil dort in den siebziger Jahren der Sinn für
dramatische Lebenswahrheit noch gar nicht entwickelt war. Jn Frankreich
ist Carmen heute noch eine Qperndiva wie Mignon, Julia oder Marguerite,
nur statt auf das lyrische Sentiment Gounodscher oder Thomasscher
Primadönnchen auf ein slotteres Capriccio abgcstimmt, ein sorgfältig
ü la MNALrvss frisiertes und kostümiertes Geschöpf, das seine Worte
espritvoll spitzt gleich einer Weltdamc und seine Füßchen setzt gleich einer
Tanzmeistcrin. Das ergreifende Lebensbild in dem krassen Theaterstück,
die Naturlaute in dieser Paraderolle habcn uns zuerst Jtalienerinnen,
voran die Bellincioni, dann aber auch Dentsche wie die Gutheil-Schoder
uck oonlos demonstriert. Seither bewundern wir in „Carmen" auch
den kühnen Versuch, den Menschen der unteren Schichten für die Opern-
bühne zu gewinnen und zwar nicht in gedrückten, abhängigen, schwach-
sinnigen Lebewesen, sondern in starken, ganz nach ihren wildcn Jn-
stinkten sich auslebenden Geschöpfen. Das war die boto Immaino, der
unidealisierte Mensch des Südens, der Nietzsche fesselte, mit seinem siede-
heißen Temperament und seiner sinnlichcn Roheit jenseit von gut und
Löse und einzig seinen launisch-leidenschaftlichen Trieben unterthan, aber
unwiderstehlich bezaubernd durch die unbewußte Anmut und Geschmeidig-
keit, die ihm eignet. Ein berühmter Komponist der Gegemvart üußerte
einmal in seiner derben Weise, er begreife nicht, wie Bizet „ein solches
Luder in Musik sctzen" konnte. Das ist bezeichnend für die Engherzigkeit
in der Beurteilung von Gestalten der Kunst unter dem Gesichtswinkel
ihres moralischen Wohlverhaltens, die alre Forderung, daß die Bühne
uns nicht Bilder sondern Vorbilder des Lebens geben solle. Darüber
sind wir heutzutage wohl hinaus. Zigeunerinnen kennt man im Theater
ja lange schon. Aber entweder waren es alte Hexen mie Acuzena oder
heimliche Grafen- und Fürstentöchter wie Preciosa, die dann im letzten
Akt unfehlbar ihrer angestammten Sphüre zurückerstattet wurden. Hin-
gegen diesc Carmen, das unbündige Proletarierkind, ein Wesen, dem
man mit ähnlichem üsthetischen Empfinden zusah, wie eincm schönen
Raubtier, dessen Gier und Tücke nns schaudern macht, aber dessen volle
Natürlichkeit in seinen grausamen Jnstinkten und schlanken Bewegungen
uns bis zur Bewunderung anzieht. Was Carmen als Weib, ist der
Stierkämpfer Escamillo als Mann. Ein Vollmensch, ganz rücksichtsloser
Wille, Rassigkeit, Feuer und sprühend von jenem Mute, der nicht geistiger
Zucht sondern überschüssigem Kraftgefühl entspringt. Was Wnnder, wenn
die bciden schnell sich verstehen und finden! Zwischen ihnen steht Joso,
edler angelegt nnd darum schwächer, einc Halbnatur, deren einmal ge-
wecktc Sinnenseite mit einer ethischen Sentimentalitüt im Kampfe liegt.
Jhm gilt die Liebe mehr als flüchtiger Genuß, er will und kann die
Preisgabe seiner bürgerlichen Stellung nur um einen Zustand des Glttcks,
um dauernde Hingebung vollziehen. Die aber ist jetzt das Einzige, was
ihm die völlig unsentimentale, im Augenblick aufgehendc Carmen, die
keinen Ruf nnd nur ihre seelische und leibliche Freiheit zu oerlieren hat,
nicht gewähren kann. Je mehr das Verhältnis zu ihr seine Empfind-
Runstwart
 
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