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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 15,1.1901-1902

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Heft 8 (2. Januarheft 1902)
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Batka, Richard: Carmen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7613#0405

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samkcit heraustreibt, je enger er sie an sich fesseln möchte, desto mehr
löst sie sich von ihm ab, und aus diesem Zwiespalt ergiebt sich mit
unerbittlicher Psychologie die Katastrophe.

Man kann es ruhig sagen, daß „Carmen" eines der besten Opern-
büchcr ist, die je geschrieben ivurden. Und so wenig man im Ernste
dabei bleiben kann, Bizet mit der gewaltigen Persönlichkeit und dem
umfassenden Geiste Wagners in Vergleich zu ziehen: als Musiker war
auch er ein Meister und mit seiner göttlichen Leichtschwebsamkeit, Formcn-
freude, Eleganz und Delikatesse sogut ein lppischer Vertreter des Romanen-
tums, wie wir in Wagner die Verkörperung des hohen Jdealismus, der
zwingenden Ausdruckskraft, des tiesen, schwerblütigen Ernstes germanischer
Kunst erblickcn. Während Wagner, auf Beethoven fußend, seine Musik
in großen Umrissen symphonisch aus wenigen triebkräftigen motivischen
Keimcn frei entwickelte, mußte Bizet durch Mannichfaltigkeit der melo-
dischen Einfülle sein Ziel erreichen und die symmetrischen Formen und
Perioden, welche der romanische Stil verlangt, mit großcm Geschick dem
rasch wechselnden Verlaufe der Handlung anpassen. Seltsam, daß er in
Frankrcich keine Schule gemacht hat! Seine Nachahmer, die Jung-
italiener, haben sein Vorbild gerade so mißverstandcn, wie unsere
Wagnerianer ihren „Tristan", aber nicht dieses Mißverständnis war es,
das sie scheitern ließ. Wagners Lchren sind im wesentlichen durchaus
beachtcnswert und der Verismo enthält wenigstens schätzbare Wahrheits-
momente. Gcnic aber ist besser als die besten Grundsätze. Zu viel
Eigensinn, zu wcnig Eigenart, zu viel Nachempfindung, zu wenig Er-
sindung, zn vicl Ehrgciz, zu wcnig Ehrlichkeit — das waren die
Schwächcn unscrcr Epigoncn. Ein Thor, wer die Meister für die Mängel
dcr Jünger mit verantwortlich macht. Als Ausgangspunkt für neue
Bestrcbungen auf dem Felde der Oper wird „Carmen" übrigens auch
hcute noch von den Musikgeschichten viel zu wenig hervorgehoben. Diese
Opcr hat überdies das Dogma, daß nur mythische oder historische Stoffe
sich auf der Bühne zu musikalischer Bchandlung eignen, widerlegt und
das Jhrige dazu beigetragen, daß der Librcttist von heute auch aus dem
Volksleben der Gegenwart »Wahrheit" schöpft, dic ja nicht immer, wie
es der Prolog Lconcavallos will, einc Zchaurige" zu sein braucht.

Jch hebe diese Punkte hervor, weil sie in dcr Schwartzschen Vor-
rcdc zur neuen Ausgabe der Oper übersehen wordcn sind und sich mir
bei der Durchsicht des Klavierauszuges wiedcr cinmal aufdrängten. Seit
Berlioz, der auch erst in Deutschland als Gcnie entdcckt werden mußte,
habcn die Franzosen in der Musik keinen andern wahrhaft schöpferischen
Geist hervorgebracht als Bizet. Saint-Savns, Massenet und die Jung-
franzosen sind bei allem Talent doch nur ^Komponisten aus der zwciten
Hand". Bizet hingegen gehört unter die Künstler ersten Ranges, und
darum wird das Werk, das alle Strahlen seines Geistes wie in einem
Brcnnpunkte vereinigt, seine „Carmen", als ein stanckarck vorlc der
Opernliteratur keinem Freunde der dramatischen Tonkunst fehlen dürfen.

R. Batka.

— Z7, —

2. Ianuarbcft 1^02
 
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