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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,3.1909

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Heft 18 (2. Juniheft 1909)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8816#0455
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das sich aus einem puuktierten
Sechzchntcl, einem Iweiunddreißig--
stel nnd einem Achtel zusammen--
sctzt, also aus rhythmischen Wcrten,
die ganz denjenigen nnsrer mensch-
lichen Tonkunst gleichcn! Beachte,
wie das Ganze halbstakkato vorge-
tragen wird; erkenne, wie der
Hauptton auf dem Achtel liegt, wie
zwischcn die häufigen Wiederholun-
gen immer eine Achtelpause einge-
schobcn wird: And du kannst nicht
nur den allgemeinen Rhythmus,
sondcrn auch Vortragsweise nnd
Takt in unsrer Notcnschrift wicdcr-
geben:

Es gibt also sogar eine Metrik
im Vogelgesang! Wcr entsänne
sich da weitcrhin nicht der heut-
zntage viel erörterten Fragc: Wo-
her stammen Metrik und Nhhth-
mns in Musik und Poesie? Hat
zum Beispiel Professor Büchcr
recht, wenn er in seinem Werke
„Arbeit und Rhhthmus" meint,
daß dcr Rhhthmus in Poesie und
Musik seincn Nrsprung rhythmisch
gegliedcrtcn Körpcrbewegungen vcr-
danke? Oder liegen bei den Men-
schen dic Verhältnisse ganz andcrs
wie bei dcn Vögcln, bei dencn
kcinerlei Arbeitsrhythmus und noch
viel weniger ein Zusammenhang
zwischen Bewcgungs- und Gcsangs-
rhhthmus nachweisbar ist? — Und
währcnd du diescr Frage nachdcnkst,
dringt vielleicht der lebhafte, aber
scheinbar recht eintönige Gesang
einer Kohlmeise an dein Ohr: sisi-
bee sisibee sisibee, oder in Noten:

Da plötzlich eine kleine Untcr-
brechung — und anf einmal er°
tönt dasselbc Motiv im ^/z-Takt:

Dann kommt's zu einer Umkehrung:

und schließlich gar noch zu einer
Verschiebung:

Sieh doch, welch ein großer musi-
kalischer Künstler dieser kleine, von
dir wahrscheinlich noch gar nicht
oder nur wenig beachtcte Sänger
ist! Oder fasse einmal — eine
gewisse Ausdauer ist freilich dabei
Voraussetzung — den Gesang eincr
Schwarzamsel ins Ohr. Vald cr-
lauschst du eins ihrer Licblings-
motive, das allerdiugs weniger an
Mozart, als vielmehr an Vrahms
odcr Richard Strauß erinnert. Und
nun bemerke, wie mannigfaltig
dieses Motiv nach den vcrschicden-
sten musikalischen Gesichtspunkten
umgestaltet wird, melodisch, rhy'th-
misch usw.: also Variationen über
ein selbsterfundenes Thcma! Veim
Gesang des Nachbars unsrcr Amscl
will es nicht gelingen, gleich hohe
Leistungen herauszufindcn; er ist
ein klciner musikalischcr Stümper,
dcr es Zeit seines Lcbens nicht
weiter bringt. Demnach gibt es
auch bci dcn Vögcln musikalischc
und unmusikalische Individuen —
gcnau wie bei uns Mcnschen. Das
bringt uns gleich auf einen andern
Vergleich zwischen diesen und den
bcficdcrten Sängern. Dort auf
dem Wipfel eines niedrigen Vau-
mes singt ein Wcidenlaubvogel —
ein kleines, recht unscheinbares
Vögelchcn — sein langweiliges
djilb djclb djalb, djclb djilb djalb
usw. in fortwährend gleichem Nhyth-
mus, mal etwas höher, dann wie-
der etwas ticfer. Aber das sind

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