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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 15 (1. Maiheft 1912)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0210
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Publikum für seine langjährige
Unterschätzung sich durch völlige
Wegwerfung rächt. Es ist inter-
essant, an der Hand der Geschichte
das Schicksal der literarischen
Päpste und Bonzen zu studieren;
man wird finden, daß immer wirk-
liche Verdienste da sind, daß diese
Verdienste aber überschäht wurden
und daß schließlich das Geld für
die Äberschätzung mit Zinsen zu°
rückverlangt wird.

Ein anmaßender Unfchlbarkeits-
ton ist viel seltener, als man ge-
wöhnlich glaubt. Es ist eine große
Ausnahme, wenn etwa in der lie-
vus äes äsux inoncts8 ein mittel-
mäßiger Kritiker einen Flaubert
oder einen Guh de Maupassant
hoch von oben herab selbstbewußt
abkanzelt. Als Beispiel für die
Regel kann etwa ein Gottsched für
Deutschland, ein Sarcey für Frank-
reich dienen: hochgebildcte, hochver-
diente, überzeugungseifrige und
wohlmeinende brave Herren, denen
aber unbillig und unleidlich viel
Autorität zugemessen wurde und
die nicht früh genug starben.

Um das Gesagte zusammenzufas-
sen: Wer sich einer überstrahlenden
Autorität oder einer hervorragen-
den Macht erfreut, also solch ein
Hauptkritiker oder Hauptredakteur
an einer sehr einflußreichen Zei-
tung odcr ein Literaturprofcssor an
einer großen Universität, hat viel
Vcscheidenhcit nötig, damit man
ihm seine Autorität und Macht
verzeihc. Und neben der Be-
schcidenheit das Talent dcr Selbst-
verjüngung. Karl Spitteler

Dilettanten und Poeten

s sind immer wicder die üblen
Freunde, die zu manchcm zwin-
gen, was man gern unterließe.
Albert Träger war ein so tüchtigcr,
so ehrlicher und so liebcnswürdiger
junger und alter Herr, daß keiner

Neigung haben kann, ihm seine
poetischen Schwächen übers Grab
vorzuhalten. Wer sich an seinen
Versen noch erfreuen kann, der wird
sich eben dran erfreuen. Wenn aber
in den leider Gottes verbreitetsten
Blättern unsrer Presse getan wird,
als sei mit ihm ein echter Poet
gestorben, so ist das aus später zu
berührenden Gründen nichts weni-
ger als unbedenklich. „Gerade der
einfache Ausdruck einer kerngesun-
den Empfindung, der sich in fast
allen Gedichten Trägers wiederholt,
sagt dem gemütvollen Leser mehr
als manches komplizierte Neimge-
klingel." „Die Zeit und der Ge-
schmack haben in fünfzig Iahren
ihren Wandel durchgcmacht, und es
ist erklärlich, daß ein aufrechter
Mann, der in allen Wandlungen
sich gleich blieb, nicht jedem Neue-
ren und Neuerer gefallen kann."
So schreibt zum Beispiel einer im
„Berliner Tageblatt". Lräger der
Vertreter der Einfachheit gegenüber
kompliziertem Reimgeklingel? Trä-
ger von den Neueren nicht aner-
kannt, weil er ein aufrechter Mann
war?

Uns scheint vielmehr, die Sache
lag so: daß Träger wie Rittershaus,
Wolff und viele der andern Mode-
lhriker sciner Zeit thpische Ver-
treter des versgewandten Dilettan-
t^.nus waren. Man kann dabei
nn so heller Kopf sein, wie Trä-
ger, kann auch sehr gesunde Ge-
danken vertreten, deren Verbreitung
erfreulich und nützlich ist, wie Trä-
ger unzweifelhaft für freiheitliches
Empfinden und anderseits für
warme Kindesliebe wohlmeinend
wacker gearbeitet hat. Was den
sogcnannten „Poeten" betrifft: in
saubern Versen mit gefeiltcn Rei-
mcn, in wohlgestelltcn Sätzen und
mit allerhand Bilderschmuck. Aber
Dichtcn ist kein gereimtes propaga-
torisches Schönreden, sondern ein

s. Maiheft M2 j67
 
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