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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 25,3.1912

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Heft 18 (2. Juniheft 1912)
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Rath, Willy: Strindberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.9027#0424
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als Dichter nnt dem Namen Naturalist erschöpfend gekennzeichnet werden;
er war nicht so knrzsichtig und kurzatmig, das Mittel für ein Endziel der
Darstellung zu halten.

Die Landschaftschilderung in seiner Lebensgeschichte, namentlich im
„Sohn einer Magd" und in der „Beichte eines Toren", im „Roten Zim-
mer", im Noman vom redlich tragisch erfaßten Abermenschen: „Am offenen
Meer", in den „Inselbauern" und an vielen anderen Stellen seines er-
zählenden Dichtens gibt eine elementarc Naturfreude kund, die innig ver-
schmolzen ist mit einer überaus gründlichen Naturkenntnis. Der un-
erschöpfliche Neichtum an charakteristischen Zügen der Iahreszeitstimmun-
gen, der Flora und Fauna, der Luftvorgänge und des Meereslebens
offenbart eine Sicherheit und Eindringlichkeit der Anschauung, wie sie
schwerlich bei irgendeinem airdern städtischen Dichter unsrer Epoche zu
finden ist. Dieselben Vorzüge (ungemischt in seinen „Blumenmalcreien
und Tierstücken") hat seine vielfältige Darstellung öffentlichen und privaten
Stockholmer Stadtlebens, nicht minder seine psychologische Eharakteristik,
die gelegentlich auch nicht davor zurückschreckt, begründende phhsiologische
Erscheinungen in den Kreis der Betrachtung zu ziehen.

Ob er einen Wald schildert oder das Entstehen einer Liebschaft, eine
königliche Schreibstubc, eine fpießbürgerliche Tyrannis, eine Dirnenkam-
mer, eine Schweizer Bergtour, eine schwedische Fischerhütte, einen lieder-
lichen Künstlerhaushalt, eine Parlamentssitzung, ein Pariser Krankenhaus,
eine Stockholmer Kaffechausfidelität oder einen Seesturm: immer spüren
wir äußerste Treue auf Grund eignen Sehens, feinstes Erkennen des
Wesentlichcn und schlichtestes Darstellen aus erster Hand. Die hohe
Empfindlichkcit der Sinne und der aufnehmenden Vernunft legten den
Grund zu diesem „Naturalismus", den wir, eben weil er nur Mittel im
Dienst höhercr Zwecke sein will, ruhig als echten gcrmanischen Nealismus
anerkennen dürfen. Frühzeitiges Leben mit der Natur, anderseits der
Druck einer harten Iugend in verarmtem Elternhaus und rückständiger
Schule beganncn die Erziehung zum deutlichen „Wahrnehmen" des Wirk-
lichen; das unablässig vordrängende Erkenntnisstreben und endlich das
bewußte Künstlertum vollendeten die Schulung des großen Realisten im
Idealisten.

Rns Deutschen wurde Strindberg zu verkehrtem Zeitpunkt, unter ver-
kehrtem Gcsichtspunkt vorgcstellt. Er kam zu Beginn der neunziger Iahre
nach Berlin, als hier der sich ernst nchmende Naturalismus in seiner
schönsten Blüte stand. Mit dieser Bewegung, die dem Vierzigjährigen, dem
Unbegrenzbarcn nichts geben konnte, warf man sein Wesen zusammen.
Und dic Führer Iüngstdeutschlands verhalfen seinen tollkühnen Einaktern
„Fräulein Iulie", „Gläubigcr", „Der Vater" zu einer Darstellung, die
dcr Freien Bühne cinen keineswegs entbehrlichen Zuwachs brachte. Zwei
Irrtümer stammen daher: daß Strindberg von Wesen Dramatiker und
daß er Frauenhasser sei.

War er ein Dramatiker? Eine verwegene Frage angesichts von vier
Dutzenden großer und klciner Dramen, die zum guten Teil auch auf-
geführt wurden. Sie ist gewiß zu bejahen, wenn unter einem Dramatiker
ein Verfasser mehr oder minder aufführbarer Werke von dialogischer Form
verstanden wird. Den Dramen Strindbergs ist darüber hinaus zuzu-
billigen, daß sie an geistigem Gehalt zumeist des bedeutenden Dichters nicht

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