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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1924)
DOI Artikel:
Haës, K. W.: Primitive Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0157

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Diese Kunst ist eine Erfüllung, ein Höhepunkt, vor dem alle spätere stil--
gleiche Kunst nur wie ein Erinnern, wie Wiedererleben ist. Nichts ist
hier stilisiert, alles ist durchaus sensorisch (den Sinneseindruck wieder--
gebend). Der Wille des Künstlers ist es, das Tier, das er jagte, wieder-
zugeben in seinem Sein, in seiner Wahrheit, in seiner Wirklichkeit." Der
Eiszeitliche „ist unfromm, ein Mensch des Augenblicks, ohne Gedanken
an die Zukunft und an die Vergangenheit. Seine Weltanschauung ist
einheitlich, unistisch. Sie kennt nicht die Spaltung, nicht das Ausein-
anderfallen von Körper und Geist. Die Vorgänge der Iagd packten ihn,
nahmen ihn ganz gefangen, er beobachtete die Tiere, er mußte das Wild
beschleichen, denn seine Waffen waren unausgebildet, stundenlang mußte
er auf der Lauer liegen, um es erreichen zu können — so sah er genau jedes
Glied des Körpers, so prägte es sich ein in sein Denken und ersüllts ihn
ganz. Das Tier nur reizte ihn und das Weib. Beide begehrte er. Beide
stehen so am Anfang der Kunst." „Ein Gemälde wie der (in K.s Werk
abgebildete) Bison kann nur entstehen bei tiefster Versenkung in die
Natur. . ." »Das ist das Wichtigste: Nicht in einem sklavischen Nach-
ahmen der Natur ist dieses Bild geschaffen, sondern im genialen Erkennen
des Wesentlichen des optischen Eindrucks." Der Körper ist nicht gegeben
wie er ist, sondern wie er erscheint. „Das Ineinanderströmen der Dunkel-
heiten und Helligkeiten schafft ein Ganzes, ein Einheitliches, das entsteht
aus der farbigen Harmonie der Teile. Dies Bild steht auf dem tzöhe-
punkt einer malerischen Epoche. Ls ist die älteste malerische Kultur
der Welt, eine Kultur, die sich fest und klar neben alle späteren stellen
kann." „Diese Kunst und diese Zeit hat ihre Grenzen nie überschritten.
Sie kennt nicht das Gruppenbild, nur das einzelne Tier, nur den ein-
zelnen Menschen. Wie der Mensch selbst Individualist ist, wie er nur
sich selbst kennt und seine Not, wie er offensichtlich ohne Staatenverband
lebt und ohne feste Gemeinschaft, so ist auch diese Kunst isoliert, jedes Tier
für sich, jedes für sich eine Welt." Betonung des Augenblicks in einer
Zeit der Llnruhe, des Nomadenhaften, Nnfrommen, die ohne Bindung ist
und das Geheimnts hinter den Dingen nicht schaut. Die Größe dieser
wie aller Kunst ist, „daß sie zwecklos ist, daß sie alle Zwecke in sich
selbst trägt. Sie tst sich selbst Schönheit und Wahrheit, weil sie die Wie-
dergeburt des Gottes ist. So steht sie am Anfang der Menschheit, in un°
geahnter Kraft, in höchster Schönheit, den Menschen verbindend mit dem
Höchsten." So weit Kühn. Aber dieselbe Kunst, die nach tzoernes nur
Weib! und Bisonl sagt. . . Sie sagt in Wahrheit mehr, auch dem, der
Kühns metaphysische Schlußwendung nicht mitmacht. Sie ist genau, was
nach späterem Wort das Wesen der Kunst bezeichnet: Sprache des Llnaus-
sprechlichen. Was in Wort und Begriff ihre Schöpfer nicht entfernt hätten
fassen können, überliefert sie: das individuelle und das soziale Wesen eines
Menschtums voll Furcht und Begehren und seine Welt. Sie bekräftigt
die Ahnung, daß Kunst ihrem biologischen Sinn nach Aberwindung von
Furcht und Begehren ist, deren Ausdruck sie zugleich bildet, indem sie die
Welt ohne Worte enträtselt, beherrschbar zeigt und gestaltet. Und sie be°
zsugt: die fast über Begreifen hinausgehende Gewalt künstlerischen
Triebes und dessen Iahrtausende überdauernde Einartigkeit; denn wenn
uns kein gsmeinsames Wort, kein gemeinsames Gerät, kein gemeinsames
Augenblick- oder Dauerlebensgefühl, kein gemeinsames Zweckwollen mit
jenen Primitiven über fünfzigtausend Iahre hinweg verbindet, in dieser
 
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