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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1923)
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Kuntze, Friedrich: Das Alkoholproblem: Betrachtungen über seine metaphysische, psychologische und soziologische Seite
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0040

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Das Mlkoholproblem

Beteachtungen über seine metaphysische, psychologische und soziologische Seite

Kampf um das Alkoholproblem wird von der angreifenden, d. i.
(-^Hder temperenzlerischen Seite mit einer Heftigkeit geführt, wie man
sie sonst nur bei religiösen und politischen Problemen gesehen hat.
Nicht nur die Verteidiger eines mäßigen Alkoholgenusses, nein, auch alle
die, so erst einmal aus eine unvoreingenommene und allseitige Unter --
suchung des Problemes dringen, müssen gewärtig sein, mit den
allergröbsten persönlichen Anwürfen überschüttet zu werden, als da sind:
sie seien selbst unheilbare Potatoren, sie seien vom „Alkoholkapital" ge-
kauft, sie hätten kein Herz in der Brust für ein leicht abstellbares Elend
des MenschengeschlLchtes usw. Ich sür mein Teil stehe aus dem Stand-
punkt, daß in der literarischen Fehde nur die blanke Waffe der Gründe
zülässig 'ist, und bemerke, daß ich chinesische Stinktöpfe, Fußangeln und
Narrenpritschen nicht für geeignete Paukmittel halte, daher ich denu allen-
fallsigen Angriffen, die mittels ihrer erfolgen sollten, nur das Schweigen
der Verachtung entgegensetzen werde. Auf dem abgesteckten Kampfplatze aber
will 'ich gern jedem Gegner stehen. Dies als persönliche Bemerkungi nun
zu einigen, so viel ich sehen kann, neuen Ansichten des Problemes selbst.

Lieber Leser, Du hast gewiß schon einmal an einern schönen Sommertag
im Walde neben einem stillen Tümpel gelegen, auf den die sinkende Sonne
spielende Lichter warf. Ammittelbar über und unter der Oberfläche ge-
wahrtest Du ein reges Insektenleben. Oben glitten spinnenähnliche Tiere
hurtig, wie Schneeschuhläufer über den glatten Spiegel hinweg, unten
kletterten behäbigs Käfer, mit dem Bauch nach oben an der Obersläche ent-
lang, als ob darauf eine unsichtbare Glasschicht ausgespannt sei. — So
ähnlich ist es auch, denn aus der Physikstunde entsinnst Du Dich, daß
diese Erscheinung auf dem sogenannten Flüssigreitshäutchen beruht, d. i.
darauf, daß das Wasser an der Obsrfläche eine höhere Spannung hat,
als in seinen anderen Teilen. Keine von den Kreaturen, die die Ober-
fläche beiderseitig beleben, scheint nun fähig, aus die andere Seite zu ge-
langen, um zu sehen, wie die Welt von da aussieht. Sieh, lieoer Leser,
das ist das Bild der meisten Probleme, die eine „breitere Osfentlichkeit"
bsschäftigen; das denkende Getier, das in ihnen lebt, ist durchaus der einen
oder der anderen Seite der Oberfläche verhastet, und 'insofern antipodisch
vsranlagt; keines von beiden kann sich in den Standpunkt des anderen
versetzen, und keines von beiden ahnt etwas von den Tiefen unter der
Oberfläche. So steht es auch mit dem Alkoholproblem.

Mit welcher erstaunlichen intellektuellen Genügsamkeit wird hier von
hüben und drüben gekämpftl Aus der einen Seite wird mit unerträg-
licher Breite immer wieder die Schädlichkeit des Alkoholgenusses ausge-
kramt (was jeder Mensch, der einmal einen rechtschafsensn Kater gehabt
hat, auch ohne all diesen Apparat weiß), werden die Kalorien bedauert,
die durch die Alkoholbereitung verloren gehen, erscheint, wie Banquos
Geist, die Verbrecherstatistik, usw. Von der anderen Seite wird all dies
in Zweifel gezogen; es marschieren die Industrien auf, die durch ein Alko-
holverbot ruiniert würden, es wird gefragt, was denn Herr Piesenack mit
seinem freien Sonntagnachmittag machen solle, wenn man ihm seinen
Biertopf und seinen Stammtisch entzieht. Kein Wunder, daß alle feineren
Geister sich angeekelt von diesem pro- und contra-Treiben abwenden und

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