Kunstwart und Kulturwart (37,1.1923-1924)

Primitiven Gemeinschaftsvorstellungen, als vielmehr umgekehrt jene diese
überziehen und erfüllen. Neue religiöse Gemeinschaften schleppen nament»
lich in ihren sozialen Niederungen zahlreiche Elemente der überwundenen
Religion noch mit. In protestantischen oder konfessionell gemischten Gegen-
den traut man dem katholischen Geistlichen die höhere Zauberkraft zu und
wendet sich z. B. zum Geisterbannen an ihn, »denn ein lutherischer kann
so etwas nicht«. Beibehaltung katholischer Feiertage, Verehrung der Heili-
gen sind in Äberlebseln vorhanden. Vor allem aber leben in den Niederun-
gen jene ewigen Dinge weiter, die schon im Katholizismus als Äberlebsel
des Heidentums weitergelebt haben, Glaube an Weihwasser und heilige
Quellen, Wallfahrten, Opfer für arms Seelen, Schiffsvotive, Fasten." . . .

„Die Dämonen selbst sind nicht plastisch gesehn und scharf umrissen wie
späte Götter hoher Kultur, sondern visionär geschaut, daher verschwommen,
vielgestaltig, wandelbar, aber auch energischer in ihrer Funktion als die
großen Götter, mit einem Worte Ausdruck der primitiven Gemüter; sie fassen
schärfer zu als die Götter, aber sind selbst unfaßlich und scheinen immer
wieder zurückzusinken in die Natur und den Boden, der sie ewig wieder er-
zeugt. Sie sind unberechenbar bösartig oder kindlich gut, oft beides zu-
gleich, und sie sind stets so mißtrauisch, tückisch, beschränkt und dumm wie
der primitive Geist, der sie erfunden hat!" . . . H. Naumann

Lose Blätter

Sonette von Shakespeare* *

(?xir gab Natur ein weiblich Angesicht,

^Du Herr und Herrin meiner Leidenschaft.

Du hast ein zartes Frauenherz, doch nicht
Nach Art der Weiber salsch und slatterhaft.

Dein Auge, nicht so trügerisch, doch lichter,

Vergoldet jedes Ding, worauf es ruht,

Nnd deine Farbe, aller Farben Richter,

Macht Männer starr, erregt der Frauen Blut.

So warst ursprünglich du zum Weib erkoren,

Bis die Natur, für ihr Geschöpf entglommen,

Den Zusatz schuf, durch den du mir verloren;

Denn was du mehr empsingst, kann mir nicht frommen,

Nun sie dich ausgeziert, den Fraun zu dienen,

Gib deine Liebe mir, den Nutzen ihnen.

O

(?>er Ligenliebe Schuld hat Aug und Seele
^Nnd jede Faser meines Seins durchtränkt;
Kein Mittel gibt es wider diese Fehle,

Die in mein tiefstes Herz sich eingesenkt.

Kein Antlitz deucht so hold mir wie das meine,
Kein Wuchs so echt, kein Wert so ohne Frage,

Ich sehe mein Verdienst in solchem Scheine,

Daß ich in Allem Alles überrage._

* Vergl. den Aufsatz hierzu in der Nuudschau dieses Heftes.