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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

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Heft 5 (Februarheft 1924)
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Schumann, Wolfgang: Zeitliches
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Fischer, Eugen Kurt: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: zu seinem 300. Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0153

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Ein gepflegtes Theater zog selbst dte Fremdstämmigen in den Bann des
Deutschtums Vorbildliche Ausgleiche wurden mit den Fremdstämmigen
geschlossen, nicht ohne Opfer, doch mit dem guten Ziel: alle „lebsn lassen"
und also auch selber das vollste Recht aufs Dasein genießen dürfen. Ich
habe von keiner Entwürdigung des Deutschtums dort etwas gehört noch
gespürt, obwohl weitgehende „Kompromisse" galten, und die entgiftete
Stimmung bezeugte deren gute Bedeutung. Dahinter aber stand der
Wille: selber zu handeln. Keinen Augenblick hat man in jener Stadt
auf das Verständnis des großen deutschen Volkes gehofft, als ob das helfen
könne, keinen Augenblick Verlorenes beklagt, keinen Augenblick neue Ge->
setze und Verordnungen erschrien, keinen Augenblick mit irgend einem
Pathos, sei es der Selbstfeier, sei es der Welt--Anklage, verloren - scndern sich
eingerichtet im Gegebenen und die Zukunft selber geschmiedet. And so,
gerade so „ging es". Ich sah unter Dutzenden viele ernste, aber keine ver--
kommenen, keine durchhaßten, keine verzweifelten Gesichter. Hörte sorgen-
volle, doch nie hoffnunglose Worte. And gewahrte die ersten Blüten neu-
werdenden deutschen Stadt- und Volkstums . . .

Es war mehr als ein tröstlicher Anblick. Es war die Gewißheit: In
unsere Hand sind wir gegeben, heute wie immer, jeder und alle; und
diese Erkenntnis kann nie aussterben, sie wird die Geister erobern und
zwingen, die Willen hervorrufen und die Hände lenken. Sch

Hans Jakob Christoffel von Grirnmelshausen

Zu seinem 309. Geburtstag

^S^-ngland hatte sinen Shakespeare, Frankreich ein halbes Iahrhundert
L^^später seinen Moliere, in der deutschen Literaturgeschichte, soweit sie
^^in^ Bewußtsein der Gebildeten überging, klafft eine Lücke zwischen den
Blütezeiten von der Philologen Gnaden, dem zwölften und dem achtzehnten
Iahrhundert. Und doch kennt auch dis Zwischenzeit Leistungen des Schrift-
tums, die ihr Zeitalter so gut verkörpern wie ein Königsdrama Shakespeares,
wie eine Bürger- oder Edelmannskomödie Molieres das ihrige; nur in der
gleichen dichterischen Gattung darf man die deutschen Gegenstücke nicht
suchen. Ein Drama, erwachsen aus wie immer gearteten Bedingungen
einer wirkungsfähigen Schauspielkunst, wird stets nur dort entstehen, wo
Gegensätze klar und scharf empfunden werden; es wird entstehen als die
Form, das Gegensätzliche in einem wichtigen oder unheilvollen sozialen
Gefüge darzustellen für eine Gesellschaft, von der lebendigs Resonanz zu
erwarten ist. Frankreich und England hatten seit Iahrhunderten ge-
ordnete gesellschaftliche und staatliche Verhältnisse, Deutschland war zer-
rissen, Machthaber und Geistmenschen führten titanische Selbstbehauptungs-
kämpfe, jeder Starke wurde in sich selbst zurückgetrieben, und wer Großes
vorzuleben oder zu verkünden hatte, baute einem neu erwachenden Indi-
vidualismus von nie gekannter Stärke die Wege. Faust und Paracelsus
sind die symbolischen geistigen Vertreter disser Zeitwende in Wirklichkeit
und Dichtung, die Gestalt des Grobianus, des ungeschlachten Gswalt-
menschen, ist ihr erdgebundener Gegenspieler. Beider Lebensantriebo ver-
schmilzt Grimmelshausenin seinem Roman aus dem Dreißigjährigen
Kriege vom abenteuerlichen Simplizissimus, diesem zeitgemäßesten aller
Bücher der vorklassischen Zeit, zeitgemäß, weil es in der Erkenntnis sndet,
 
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