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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1924)
DOI Artikel:
Haës, K. W.: Primitive Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0156

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Prirnitive Kunst

or einiger Zeit ist im Kunstwart auf die „Malerei der Eiszeit" hin--
^ gewiesen worden, über die ein schönes, eindruckvolles Buch H. Kühns

erschienen war. Diese Kunst ist im Lauf der Zeit sehr verschieden
beurteilt worden. Als M. tzoernes 1915 sein großes Werk von der Ur--
gsschichte der bildenden Kunst in Europa schrieb, wandte er sich noch mit
einiger Schärfe gegen jene Werke. Eine Kunst der „Genußfreude"
nannte er sie; „Fleisch ist ihr tzauptinhalt", erotische „Ideale" einerseits,
„Nahrungstiere" anderseits,- „je mehr Leibesumfang, desto besser"; aller-
dings, ein mächtiger Gegenzug habe eingesetzt: „Ie richtiger, desto
besser"! Aber diese Kunst dieser „großartig ungebundenen" und „ebenso
srstaunlich armen und stumpfen" Primitiven sei doch schließlich unfähig
gewessn zur „einfachsten Bildung von Gruppen oder Mischfiguren", zur
„schlichtesten Darstellung einer tzandlung oder eines nackten Tatsachen-
berichts", Einzelfiguren, allenfalls Reihen solcher Figuren habe sie her-
vorgebracht, keine Iagd-, keine Kampfszenen; sonore Ausdrücke für lebens-
wichtige Begriffe, keine Syntax, keinen Satz; in wörtlicher Abersetzung
besage diese Kunst: „Weib, o Weib! Fettes Weib! Schönes Weib! Bison,
großer Bison! Starker Bison!" Bei höchstem Grad formeller Vollendung
tiefster Stand hoffnungsloser Unfruchtbarkeit. . .

Das alles scheint wahr, scheint unwiderlegbar, solange man den Grund-
gesichtspunkt des Beurteilers festhält, den Gesichtspunkt, daß Kunst arm
sei, wenn sie arm an Gegenständen ist, reich, wenn sie viel Stoffliches
umfaßt. Aber schon dieser Gesichtspunkt ist nicht recht künstlerisch. Gehen
wir reiner empfänglich für künstlerische Werte an jene Werke heran, so
fesselt uns zunächst, was tzoernes so kühl ihre „sormelle Vollendung"
nennt, was aber in Wahrheit mehr als eine solche ist. In dieser nicht nur
formellen sondern echt künstlerischen „Vollendung" — eine leidenschaft-
liche innere Absicht „vollendet sich" restlos mit den reinen Mitteln der
Linie, Farbe, Licht- und Schattenwiedergabe, Bewegungsdarstellung! —
in ihr erschließt sich unmittelbar das ganze Weltbild einer menschlichen
Epoche, ihr voller Erlebniskreis. Rnd wenn man Hoernes die „Armut"
jener Kunst zugestehen will, so muß man doch hinzufügen, daß dabei nur
an eine Beschränkung in der Auswahl der dargestellten Gegenstände gedacht
werden kann — über die man sich wundern mag. Aber das Geheimnis der
Kunst war damals wie heute: daß auch engste Schranken im Gegen-
ständlichen das Kunstwerk nicht hindern, Spiegel ganzen Menschtums,
gesättigt von Empfindung, und Ausdruck vollen Menschenlebens zu sein,
Kristall, noch so klein, jedoch Ilnendliches fassend, da alles Menschliche
unendlich ist. Dies erfassend und empfindend spricht Herbert Kühn von
der gleichen Kunst mit völlig anders lautenden Worten.* Das Motto
Ganguins bestimmt ihn, das er seinem Buch voransetzte: „Die Wilden,
diese linwissenden, haben den alten Kulturmenschen vieles gelehrt. . .
Vor allem haben sie mich gelehrt, mich selber besser zu kennen, ich habe
von ihnen nur tiefste Wahrheit gehört" . . . Die Höhlen jener Zeit, sagt
Kühn, „haben Gemälde, farbige ölgemälde, vor denen das Wort ver-
stummt." „Ls sind Tiere dargestellt, die der Mensch jagte, Tiere, in Be-
wegung, im Äsen, im Eilen, im Fliehen, im Aufbrüllen und im Verenden.

* Fn seinem Werk „Die Knnst der Primitiven" (Delphin-Verlag, Münchsn (s)2Z.
2^6 S. Lex.-Form.2(5 z.T. farb. Taf. u. Abb.), von dem im folgenden gesprochen wird.
 
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