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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI issue:
Heft 5 (Februarheft 1924)
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Fischer, Eugen Kurt: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: zu seinem 300. Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0155

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gleichbar, in seinem Schicksal das seines ganzen Volkes spiegelnd, wie
Parzisal, der Ritterbürtige, das des miles christianus seinen Standes-
genossen vorlebt. „Einfalt", die letztlich zur Einheit mit Gott sührt, ist
das Ziel beider Wanderer, des Ritters einer höfisch-feinen und des rauhen
„Musketierers" einer maßlos rohen Zeit, doch den schwereren Weg hat Grim--
melshausens Held zu gehen, dem alles widerfährt, was einen Menschen zer-
brechen kann: Elternlosigkeit, frühe Verschleppung, steter Wechsel der Herren,
die bald edel und weise, bald verbrechsrisch und gewalttätig sind, Gefangsn-
schaft, unfreiwilliges Rarrentum, verrohender Kriegsdienst unter allerhand
Bannern, verlottertes Vagantentum, Gesellschaft schlechter Frauenzimmer und
liederlicher Burschen, Verlust des endlich gewonnenen Vermögsns, der Frau,
des Freundes, der Gesundheit, Zerstörung auch des zweiten HLuslichen Idylls
im stillen Schweizerdorf und immer wieder Heimatlosigkeit, dazu Begeg-
nung mit allen finsteren Mächten, mit tzexen und Teufeln, an die die Zeit
noch glaubt.

Grimmelshausen hat das Leben ebenso geliebt wie die Erkenntnis; wohl
ahnte er, daß eines ohne das andere nicht wahrhaft sein kann. Die barocken
Kapitelüberschristen — auch sie kehren bei Iean Paul wieder — zeigen den
Dichter gleichzeitig in und über der Situation. Ein einziges Mal tritt be-
deutsam eine rein konstruierte Figur auf die Bühne: der Narr „Iupiter";
in seinen Träumen von einem gernranischen Weltreich der Zukunft ver-
kündet Grimmelshausen eigenes Sehnen und Schauen, gewaltsam zwingt
er einen Sinn hinein in die Sinnlosigkeit des Zeitgeschehens, um es ertragsn
zu können. Was verstünden wir von heute besser als dies, da es uns alljähr-
lich inunserm Dichterwerk begegnet.

Achtundzwanzig Iahre umspannt der Roman historisch, die Kämpfe um
Höchst, Nördlingen, Hanau, Magdeburg und Wittstock bezeichnen die Stand-
punkts der Handlungen, die Grimmelshausen mit den Augen eines Barock-
malers und mit der Witterung eines Abraham a Santa Llara beob-
achtet und deutet.

Die Landschaft, vor allem die schweizerische und die des Spessart, ist mit
Liebe gezeichnet, die alemannische Sage vom Mummelsee erscheint, noch
ungeschickter geformt, unter gelehrtem Kram erstickt, als ein frühes Stück
Naturmystik. Bisweilen schenkt sich dem Leser die Stimmung durch ein
eingeschaltetes Lied, etwa durch das Lied Vom Bauernstand oder durch des
Einsiedels melodiösen Gesang „Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall".
Es gibt indirekte Arten der Naturschilderung, die völlig ausreichen. Auch
wenn eiu Stück Schwarzwald durch bloße Aufzählung dsr Fernblicke mit
Angabs der Himmelsrichtungen charakterisiert wird, spürt man: Hier ist
Empfundenes niedergeschrieben, zumindest ein beseligendes Gefühl der
Weite. In dem Irrfahrer, der in der Einsamkeit von Wäldern oder
znletzt auf der stillen Insel Trost und Ruhs sucht, spüren wir ein unserem
heutigen Menschentum Verwandtes; unsere Sehnsucht drängt uach den
Insebn der Südsee oder nach der Küsteneinsamkeit der Kurischen Nehrung.
In Grimmelshausens Naturgefühl liegt viel romantisches Heimatgefühl,
Heimattrieb des Wurzellosen. Ihm hält die Wage der Tätendrang des nie
Befriedigtsn. Der wahrhafte Vorgänger von Goethes Faust: nicht das Volks-
buch vom Faust, sondern Grimmelshausens Roman.

E. K. Fischer
 
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