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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI Heft:
Heft 4 (Januarheft 1924)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Wider die Zeitkrankheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0108

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Wider die ZeitkrankheiL

F^^er europäische Mensch, der deutsche vor allem, lebt Zumindest seit
Neunzehnhundertundvierzehn, sieht man aber genauer hin, seit Men--
schengeschlechtern in einem ununterbrochenen Krankheitsprozeß, den
Goethe bereits in seiner ganzen Gesährlichkeit erkannte und in seinen
letzten Lebensjahren prophetisch als die größte Gefahr für unsere Zukunft
bezeichnete. Die Entwicklung gab ihm Recht. Wir sind so tief in diefer
Krankheit drin, daß die zergliedernden Beurteiler unserer Zeit, die ebenso
zahlreich sind wie die Führer und wirklichen Helfer selten, sie fast durch-
gängig erkannt, mit verschiedenen Namen benannt und auf verschiedene,
doch meist einem Komplex angehörende Ursachen zurückgeführt haben.
Mechanisierung nennt einer diesen Nrsachenkomplex, der andere Industriali-
sierung, der dritte Imperialisierung, der vierte Intellektualisierung, der
fünfte nennts Lntgötterung der Welt, der sechste Antergang des Abend-
landes, je nach Weltbild, Temperament oder auch Klassenzugehörigkeit.
Wer Personen oder Volksschichten sür das Geschehene verantwortlich macht,
wird sich in Kampfstellung retten und dadurch, als Parteigänger irgend
einer todgeweihten Gruppe, sich selbst gegen die Folgen der Krankheit,
freilich nur zum kleinen Teil, sicherstellen, wer die Entwicklung als etwas
Notwendiges, Anausweichliches empfand, das ja nicht immer auch gut
oder nach Menschenermessen vernünftig zu sein braucht, mußte aus die
Schutzgefühle verzichten, die der Sprung in die Aktivität verleiht. Er war
genötigt, mit der Last sich zu schleppen, die ihm der unfreiwillige Mssandra-
blick aufdeckte. Ob einer aber im Strudel aktiv oder passiv lebte, die Lage
besserte sich nicht; und sie wird, vielleicht auf Generationen hinaus, sich
noch weiter zuspitzen, bis zur völligen Massenhysterie oder wie wir immer
den psychisch-physischen Zustand einer entnatürlichten, in schwindelhaftem
Hetztempo dahinlebenden Bevölkerung nennen wollen. Denn das ist die
Zeitkrankheit: ein verwüstetes menschliches Dasein. „Anstet und gesellig,
interessiert kritisch, strebsnd uud hastend ist die Stimmung nun schon des
dritten Geschlechtes westlicher Menschen". „Im Argrund ihres Bewußt-
ssins graut dieser Welt vor ihr selbst; ihre innersten Regungen klagen sie
an und ringen nach Befreiung . Das ist das Bild einer Menschheit,
die der Despotie der Mittel unterlag, die „stecken blieb", um avenarianisch
zu reden, die nur noch äußerer, meßbarer Lebenssteigerung, ja „Betriebs"-
steigerung fähig ist. Wohl weiß man jetzt, wie alles kam, wenigstens soweit,
daß man Rettungsmaßnahmen einleiten könnte, vorausgesetzt, die Massen
täten mit. Doch es liegt im Wesen des mechanisierten Menschen, sein Heil
in der Zuspitzung dieser Mechanisierung — „mechanisch" — zu suchen und
sich, da ihm die Wurzeln nach unten abgeschnitten sind und die Fühlung
nach links und rechts zerstört ist, gegen Veränderung, die Opfermut und
Verantwortungswillen fordert, zu stemmen. Dieser mechanistische Wider-
stand der Mehrheit, der, in allen Volksschichten gleich, nicht nur das
herrschende Elend der Verarmung im Menschlichen, nein, auch die Kluft

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