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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI issue:
Heft 4 (Januarheft 1924)
DOI article:
Fischer, Eugen Kurt: Wider die Zeitkrankheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0109

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zwischen dir und rnir, zwischen uns und euch zu verewigen trachtet, macht
es dem Führer und Organisator schwer, festen Boden unter den Füßen
zu gewinnen und überdies stellen sich ihm sofort gegnerische Organisatoren
in den Weg, die zwar letzten Endes auf dasselbe hinaus wollen, die aber
zunachst, genau wie er selbst, Teilstrecken Weges mit ihrer Gefolgschaft,
in deren eingefleischtem Trott, marschieren müssen, um das lebende Instru--
ment Masse allmählich in die Hand zu bekommen. So geschieht es dann,
daß, wie im heutigen Deutschland, eine Vielzahl von Gruppen sich im
Sonderaktivismus erschöpft, obwohl weiß Gott nicht schwer zu erkennen
ist, daß solche Zersplitterung nur entkräftet. Was nützte aber auch Er>-
kenntnis, wenn die Voraussetzungen zu anderem Handeln fehlen? Die
Wahrheit ist: wir sind noch nicht, noch immer nicht reif zu irgend einer
gemeinsamen Befreiungstat. Wir nähern uns vielleicht einmal der Reise,
wenn die Vielzahl der Gruppen auf zwei sich zusammengezogen hat. An-
sätze dazu — im Politischen — sehen wir zur Zeit der Niederschrift dieser
Betrachtung in Bayern und in Sachsen.

Wenn es aber nicht möglich ist, in absehbarer Zeit das Tempo unseres
Gemeinschafts- und damit auch unseres persönlichen Einzellebens zu
ändern, wenn alle Reformprogramme vom Strom der scheinbar sinnlosen,
rasenden Vorwärtsbewegung — denn eine bloße Kreisbewegung ist es trotz
allem nicht — verschlungen werden und immer nur für das Ganze bsdeu-
tungslose, wenn auch als Symptome erfreuliche Versuchsarbeiten sich
länger oder kürzer halten, so gilt es, Kräfte zu wecken und ins Spiel zu
führen, die möglichst wenig an die Bedingungen des materiellen Treibens
gebunden sind. Das ideale Heim, die ideale Schule, der Anschluß an die
Natur, die vorurteilsfreie Forschung, die unabhängige Kunst, die wirk-
liche, lebendige Gesellschaft, das alles bleibt Ntopie, muß Ntopie bleiben,
solange die wirtschaftliche Basis für das alles nicht gewonnen werden
kann. Die wird aber nicht durch umgehende Ausführung eines Partei-
programms zu erlangen sein, sie wird zuletzt doch werden, wie ein Baum
wird, mögen Programme dieses Werden auch tief beeinflussen, sie wird
fich erheben aus dem scheinbar sinnlosen Durcheinander- und Gegen-
einanderwirken der immer nur auf Teilziele, zum Ganzen also schief ein-
gestellten aktiven menschlichen Kräfte. Nns aber, den Einzelnen, bleiben
zwei Aufgaben. Nicht „lösen" werden wir sie vielleicht, doch in steter An-
näherung an die Erfüllung über ihren ursprünglichen Rahmen hinaus-
treiben: geistig haben wir gesündere Lebensformen zu finden, zu ersinnen,
zu durchdenken bis ins Letzte und sie in praktischen, gewiß unzulänglichen,
dennoch wertvollen Teilversuchen zu erproben, als Lebende haben wir
unsere Kräfte für das Kommende zu bewahren, ja zu steigern. Das zweite
Gebot gilt für Alle, das erste für die Führermenschen. Nnd doch wird
auch die einfache Forderung, Kräfte zu wahren, zu steigern von wenigen
begriffen und ersüllt, von den wenigen, die den Willen zur Erneuerung
haben, in denen dieser Wille geweckt werden kann. Anfangen muß jeder
bei sich selbst, mit dem starken Willen, ein Beispiel zu geben und in an-
deren das Gefühl einer Verpflichtung zu erwecken. Im Kriege sind die
Schlagworte aufgekommen und zum Äberdruß vernutzt worden: „Durch-
halten" und „Kulturdünger" . . . Sie passen in Wahrheit, mit etwas
verändertem Sinn, noch immer auf die neue, auf die immer noch alte
Lebenslage der Völker und Menschen. Damals im Krieg hieß Durch-
halten: die Nervenkraft bewahren; und wer sich als Kulturdünger betrach-
 
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