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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1924)
DOI Artikel:
Liebscher, Artur: Volkstänze
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0160

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Volkstanze

^UH^it der Freude am Volkslied fängt auch allmählich das Intsresse am
an, sich wieder einzustellen. Ganz schüchtern zunächst noch.
^^^Aber immerhin: es ist da. Die Wandervögel haben die Formen der
Singtänze wieder aufgegrisfen, an die in den Großstädten Iahrhunderte
hindurch kein Mensch mehr dachte, und niemand soll ihnen daraus einen
Vorwurf machen, daß sie ihre Reigsn und Tanzspiele zum allergrößten Leile
neu erfanden. Denn ganz selten einmal ist einer der alten Reihentänze auf--
gezeichnet worden, und was sich die Wandervögel entwarfen oder spielend
bildeteu, das entspricht jedensalls in seinem Charakter der volkstümlichen
Fröhlichkeit bei weitem besser als alle die Erzeugnisse moderner Tanzmeister-
Konzilien, die alljährlich ihren Weg über die Operettenbühnen hlnweg in
die Säle der Großstadt finden und von da aus mit unheimlicher Schnellig-
keit bis ins entlegenste Dorf dringen. Rnd —was eigentlich das Allererfreu-
lichste an den Tänzen dsr Wandervögel ist — sie bieten dem jungen Volke
wieder Gelegenheit, dort Zu tanzeu, wo man es ursprünglich tat, im Freien,
aus dem Dorfanger, unter der Linde. Wer die fröhlichen Gruppen sich zu
ihren eigenen Liedern im Reigen schlingen sieht, gedenkt wohl zuweilsn
daran, welche beinahe widerwärtigs Sinnlosigkeit ein Hause von Menschen
darstellt, der sich am Sonntag-Abend, zusammengeballt im „großstädtisch"
aufgeputzten Saale eines Dorfgasthofss, nach den Klängen eines Großstadt-
Schlagers dreht; vollends, wenn sie dann sinen Text mitsingsn, dessen Raffi-
nierthelt mit dem Wesen der Tanzenden ebensowenig gemein hat, wie die
Bewegungsn eines Schiebers, eines Fox-, Bären- oder Affentrotts mit den
derben und gesunden Bewegungen, die sonst der Landjugend eigen sind . . .
Vielleicht kommt die Zeit, in der auch die Dörfler einmal, ohne Scheu vor
dem nun schon längst Ungewohnten, dem Vorbilde der Wandervögel folgen
und sich des Sonntags oder nach Feierabend wieder wie ihre Vorfahren im
Freien drehen. Haben sie das erst einmal versucht, so braucht niemand mehr
in Sorge zu sein um die Tänze selbst. Denn die linnatur der künstlich kon-
struierten modernen Tanzgsbilde ist Zu offensichtlich, als daß sie don den
Tanzenden selbst nicht wenigstens im Freien empsundsn werden müßte. Ein
letzter Rest von gesundem Empfinden und natürlichem Geschmack wird un-
serm Landvolke doch wohl verblieben sein. Die geeigneten Formen der Tänze
werden sich dann ganz von selbst einstellen. Lassen wir ruhig die Wander-
vögel sich ihre Reihen und Tänze bilden, so wie sie es mögen! Stören wir
ihrs Anbefangenheit nicht mit dazwischen geworfenen Forderungen. Es ist
bloße Pedanterie, immer nur das geschichtlich als echt und alt Erwiesene
gelten zu lassen. Wenn nur die Tänze dem Charakter der Tanzenden und
dem Ort des Tanzes entsprechen. Erst das macht sie „echt". — Ganz aus dem
Saale herauslocken wird man das junge Volk wohl nie mehr. Aber hsime-
liger kann man es ihnen darin machsn, daß sie sich auch dort in der ausge-
lassensten Fröhlichkeit immer noch als echte Menschen fühlen. Daß in Schieber
und Trott auch nur eine Spur von dem steckte, was ursprünglicher, ewig
ursprünglicher volkstümlicher Fröhlichkeit entspräche, kann nur behaupten,
wer diese Tänze oder das Volk nicht kennt. Das Unheil ging von der Operette
aus. Als man anfing, dieser auf ein internationales Großstadtpublikum zuge-
schnittenen Unterhaltungsform ihre Tänze abzuborgen, als die Operette auf
jene ein oder zwei Tanz-Schlager eingerichtet wurde, deren Verkaus allein
schon das Operettengeschäst für Komponist und Verleger rentabel macht,

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