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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

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Heft 6 (Märzheft 1924)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0223

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Weiter: „Aber es gibt etwas, das man nicht angreifen darf, wenn das
Volk nicht aufhören soll ein Volk zu sein: ein Subjektives uud rtnteilbares,
durch welches das Volk zu einem ganz bestimmten Individuum wird, unter--
schieden vou anderen Volksindividuen." Disse Bemerkung ist m. E. entweder
mysterisch oder banal. Mir scheint: banal. Selbstverständlich hat der Begrisf
„Volk'" seine abstrakteu konstitutiven Merkmale und jedes einzelne Volk seine
konkreten. Warum drückt man diesen simplen Sachverhalt umständlich aus?
Es fragt sich nur, welche Merkmale dem Bsgriff Volk und welche unserm
Volk zukommen. An sich gilt Stapels Satz wiederum von andern Eemein--
schaften genau so: Ieder Staat hat „etwas, das man nicht angreifen darf,
wenn der Staat nicht aufhören soll . . durch welches er zu >einem . . Indi--
viduum wird, unterschieden von audern" Staatsindividuen. Ebeuso jede
Religionsgemeinschaft, jeder Stamm, jede Gemeinde usw. . . Ob übrigens
die Verschiedenheit der Völker „zufällig" ist oder „wesentlich" (wie St. mit
fragwürdiger Entgegensetzung sagt; es müßte wohl „notwendig" heißen!)
ist, ist wieder nichts als ein Scholastizismus; es klingt, als ob man damit
etwas Denkenswertes ausspreche, aber in Wahrheit ist jene Verschiedenheit
vielleicht „zufällig" und „wesentlich" — jedensalls: wirklich vor--
handen! (Schlutz folgt)

Vom tzeute fürs Morgen

Stimme nberfüllt Täler, bricht ab und
wimmert in den Mantel der Stille ge°-
dnckt. Dieses alles klirrt in den eiser-
nen, niedurchbrochenen Ketten der
strengsten Form: im Sonett. Liebe zu
einem strahlenden schöncn Iüngling,
Liebe zu einem häßlichen dunklen Weib
schuf durch diesen Dichter nicht, wie sie
in der Gegenwart wohl tun würde, rap-
sodische Schreie, differenzierte Musik
der Qual: schuf geistgebändigt-blut-
dnrchstürzte Sonette, in sich selbst ver-
ballte Riesenkraft.

Die Holzschnitte von Teutsch sind Len
Sonetten gewächsen. Sie gefallen viel-
leicht nichk alle jedem Leser. Aber
darauf kommt es nicht an. Sie sind
kein Kommentar der Sonette, keine
Illustrationen. Man fragt nicht, was
sie bedeuten. Sie sind Schöpfungen
von eigner Wucht, deren Gestalten sich
dem Rhhthmus der dichterischen Lei-
denschaft vollkommen einverleiben.

M. Br.

Werfels Beschwöeungen
(^sranz Werfel greift die Dinge nicht
O mit Händen, belauscht sie nicht mit
Ohren, betrachtet sie nicht mit Augen,
sondern erdringt sie mit seiner ein-
tastenden Seele. Er deckt die Wesen»
heit der Dinge auf und stellt sie in

Shakespeares Sonette

^?xer Verlag Arndt Beyer in Leipzig
^bringt Shakespeares Sonette in der
Abersetzung von Eduard Saenger mit
tzolzschnitten von Walter Lentsch. Ich
habe wenige Bücher gesehen, bei denen
Inhalt und Form einander so wert
waren wie hier. Man meint, diese un-
geheueren Gedichte würden jedes klei-
nere, gewichtlosere Format in die Luft
sprengen. Dieses große Buch ruht si-
cher in seinem noblen tzalbledereinband
und prägt mit grotzem, schönsn Druck
seine Sonette unentrinnbar in unsere
Augen. Bruno Erich Werner schickt
ihnen eine gute kurze Vorrede voraus,
in der er ausdrückt, was die Forschung
der Vergangenheit an ihnen verkannte
und was das Verständnis der Gegen-
wart von ihnen erkennt.

Man liest das erste Sonett, das
zweite, dritte, weiter, weiter, im Bann
eines erschrockenen Erstaunens, wie man
es fühlen mag, wenn man vor Michel-
angelos gefesselten Sklavengestalten
steht. Licht, Nacht. Liebe, Sünde, Hast.
Drang, Sucht, Verzweiflung. Blutstöste
überfüllen Adern und verdunkeln ein
Gesicht, stoßen zurück und machen es
totbleich. Ein Nacken stsmmt sich, Mus-
keln schwellen titanisch, dann sinkt ein
Riesenleib mit dumpfem Fall. Eine

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