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Kunstwart und Kulturwart — 37,1.1923-1924

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Heft 6 (Märzheft 1924)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14439#0222

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nicht. Gegenüber dem Staat: die Macht des „StaatsgedankenZ" ver-
mochte deutsche österreicher zur Preisgabe anscheinend oiel „uatürlicherer"
Interessen und Deutsche zur Zurückdämmuug starker Leidenschaften. Gegen--
über dem Bund*: sehr viele Menschen in allen Teilen Deutschlands habe
ich ihreni Bund nahezu „alles", sogar ihre moralische und geistige Selb--
ständigkeit, opseru sehen.

Es ist hinzuzufügen: Keine dieser Gemeinschaften ist allen Bewohnern
eiues größeren Landstrichs entscheidend wichtig. Iede erfaßt das Innere einer
engereu Gruppe von Menschen besonders stark, um die sich daun Kreise vou
geringerer Hingabe lagern — jenseits der Peripherie stehen Fremde, unbe-
rührte Gruppen. Es gibt religionlose, unverbündete, klassenfremde, staats-
gefühlfreie und von ehelicher Bindung unbetroffene (obwohl verheiratete)
Menschen. Was ich bezeichnen wollte, ist: die zahlenmäßig häufigsten oder
größteu und gleichzeitig am tiefsten gefesselten Gemeinschasten. Zu
dieseu gehören nach meiner Erfahrung die „Völker" nicht.

Stapel hebt trotzdem aus der Fülle der Gemeinschaften die des „Volkes"
besonders heraus, verherrlicht und verheiligt sie sogar. Sieht das „Volk"
nun wirklich so aus wie er es schildert? Nein!

Gleich eingangs führt er an: Ein Volk sei „nicht wie ein Verein oder
ein Staat nur ein Werk menschlichen Willens". Ein Staat ist fast nie „nur
ein Werk menschlichen Willens"! sondern zum großen Teil ein zwangläufig
gewordenes Halb- oder Dreiviertel-Naturgebilde; hierüber hat moderns
Staatskunde, vor allem von Kjellen glänzend formuliert, abschließend auf-
geklärt. Nicht tommt dem „Volk" die Eigentümlichkeit „naturhaft ge-
wachsener Einheit" besonders charakteristisch zu! nicht viel mehr als dem
Staat, geschweige denn mehr als andern Gemeinschaften: Familie, Stamm,
Religionsgemeiuschaft, Ehe — alle „wachsen naturhast".

Weiterhin betont Stapel die „Wirklichkeit" des Volkes, als ob andre
Gemeinschaften „unwirklich" seien. Es bleibt ein Geheimnis, was dies
bedeuten soll. Merkwürdige und rätselhafte Kämpfe führt St. auf: Andere
könnten Wirklichkeiten nicht „von Begriffsweseu uuterscheiden", „Täu-
schungen" griffen ein, und darum sähe man „das Volk" nicht. Nun, ich
sehe es, empfinde es, erkenne es an. Ob es „genau so wirklich wie der
einzelne Mensch ist", diese sinnleere Frage kann eigentlich nur einem
Scholastiker einfalleu; genug: es ist „wirklich". Es lebt von und in der
Influenz, welche die Angehörigen des Volkskörpers stärker oder schwächer
aufeinander ausüben, wie der Einzelne durch die Bindegewalt, durch die
psychisch-physische Kohäsion der Zellen lebt, welche ihn konstituieren. Wich-
tiger als die Gemeinsamkeiten beider sind indes die Unterschiede. Und die
sind auch — „wirklich"!

Weiter- „Ein Volk kann man durch Staatsgrenzen zerteilen, man kann es
äußerlich zerstreuen, man kann sogar seine Sprache verändern und es bleibt
doch ein Volk". Dasselbe kann man mit einem Bund, einer Religion-
gemeinschaft, einem Stamm, einer Klasse, einem Stande, und auch sie „blei-
ben doch, was sie sind"! Anderseits sind die genannten Prozeduren
manchem Volk so schlecht bekommen, daß es in der Folge ausstarb. Eine
mysterische Äberkraft eignet nicht jedem Volk.

* Anter „Vund" verstche ich jene mannigfaltigen Gemeinschaften, welche vor-
wiegend ans Freundschaftlichkeit, Gesinnungverwandschaft nnd gewissen „In-
stinkten" hervorgehen: Iugendbünde, „Männerbünde", einige „Klubs", Frei-
maurergruppen, Lebensreformervereinigungen u. ä. m.

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